Behauptungen und Tatsachen

In den Auseinandersetzungen zum Verhältnis Schweiz-EU werden Standpunkte sehr oft mit Begriffen begründet, die offensichtlich widersprüchlich ausgelegt werden.

EU-NO Newsletter vom 15. April 2016

Wir greifen vier häufig verwendete, für die Diskussion zweifellos wichtige Begriffe heraus und trennen bei ihrer Erläuterung sorgfältig zwischen Behauptungen und Tatsachen.

Souveränität

 «Unter dem Begriff Souveränität (frz. souveraineté, aus mittellat. superanus, darüber befindlich, überlegen) versteht man in der Rechtswissenschaft die Fähigkeit einer natürlichen oder juristischen Person zu ausschliesslicher rechtlicher Selbstbestimmung. Diese Selbstbestimmungsfähigkeit wird durch Eigenständigkeit und Unabhängigkeit des Rechtssubjektes gekennzeichnet und grenzt sich so vom Zustand der Fremdbestimmung ab.» (Wikipedia)

In der «Arena» vom 4. März 2016 sagte der «Experte» Prof. Dieter Freiburghaus, die Schweiz sei nicht mehr souverän, weil sie EU-Verordnungen im «autonomen Nachvollzug» übernehme.

Diese Aussage ist aus drei Gründen falsch:

Erstens übernimmt die Schweiz nicht alle EU-Verordnungen; zweitens übernimmt sie EU-Verordnungen nicht automatisch (Ausnahme: Folgerecht zum Luftverkehrs- und Schengen/Dublin-Abkommen). Sie übernimmt – und dies freiwillig – drittens nur jene EU-Verordnungen, die sie als sinnvoll und nutzbringend erachtet.

Solange die Schweiz selbständig entscheiden kann, welche internationalen Verträge, Rechtsbestimmungen und Verpflichtungen sie eingehen will und welche nicht, solange sie sich von eingegangenen Verpflichtungen aufgrund eigenen Willens auch wieder lösen kann, ist und bleibt sie souverän.

Lässt sie sich aber in die EU-Strukturen «institutionell einbinden», dann verpflichtet sie sich, alle EU-Gesetze, EU-Richtlinien und EU-Verordnungen, welche Sachverhalte betreffen, die in bilateralen Verträgen und Vereinbarungen angesprochen werden, automatisch zu übernehmen. Da solch automatische Übernahme von EU-Vorgaben obligatorisch ist, verlöre die Schweiz damit ihre Souveränität.

Volkssouveränität

«Das Prinzip der Volkssouveränität bestimmt das Volk zum souveränen Träger der Staatsgewalt. Die Verfassung als politisch-rechtliche Grundlage eines Staates beruht danach auf der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes.» (Wikipedia)

Im Klartext: Keine irgendwie geartete Elite darf sich anmassen, sich der Gesamtheit der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger gegenüber als übergeordnet und weisungsberechtigt zu bezeichnen.

Gewaltentrennung/Gewaltenteilung

 «Gewaltenteilung (in der Schweiz und in Österreich «Gewaltentrennung») ist die Verteilung der Staatsgewalt auf mehrere Staatsorgane zum Zweck der Macht­begrenzung und der Sicherung von Freiheit und Gleichheit. Nach historischem Vorbild werden dabei die drei Gewalten Gesetzgebung (Legislative), Verwaltung (Exekutive) und Rechtsprechung (Judikative) unterschieden.» (Wikipedia)

Im Abstimmungskampf zur Durchsetzungsinitiative (Abstimmung am 28. Februar 2016) behaupteten die Initiativgegner, Parlament und Justiz könnten – oder müssten sogar – Volksentscheide «korrigieren». Es gebe eine Gewaltentrennung zwischen Volk, Parlament und Justiz.

Diese «kreative» Definition von Gewaltentrennung ist grundfalsch.

Die verfassungsmässige Gewaltentrennung bezieht sich auf die Kompetenzen von Parlament (Legislative), Bundesrat (Exekutive) und Justiz (Judikative). Der Souverän, das Volk, steht über (und nicht neben oder unter) den Institutionen Parlament, Bundesrat und Justiz. Die Institutionen haben die Volksentscheide zu akzeptieren und durchzusetzen.

Die Volkssouveränität ist unteilbar. Man kann nicht «ein wenig souverän» sein, so wie eine Frau auch nicht «ein wenig schwanger» sein kann.

Menschenrechte

«Als Menschenrechte werden subjektive Rechte bezeichnet, die jedem Menschen gleichermassen zustehen. Das Konzept der Menschenrechte geht davon aus, dass alle Menschen allein aufgrund ihres Menschseins mit gleichen Rechten ausgestattet und dass diese egalitär begründeten Rechte universell, unveräusserlich und unteilbar sind. Die Idee der Menschenrechte ist eng verbunden mit dem Humanismus und der im Zeitalter der Aufklärung entwickelten Idee des Naturrechtes.» (Wikipedia)

Diese Definition zeigt bereits auch die Schwächen, die mit dem Begriff «Menschenrechte» verbunden sind:

  1. Es gibt keine universell gleiche Vorstellung darüber, worin diese Menschenrechte bestehen. Beispiel Todesstrafe: Seit 2002 verbietet die Europäische Menschenrechtskonvention die Todesstrafe, die UN-Menschenrechtscharta verbietet sie jedoch nicht. Länder wie USA, China, Saudi-Arabien und Iran erachten die Todesstrafe als kompatibel mit den Menschenrechten.
  2. Seit einigen Jahren nimmt die Tendenz zu, politische Ziele via Neuinterpretation der Menschenrechte anzustreben. Dies kann erläutert werden am behaupteten Anspruch, selbst Hausbesetzer könnten für ihr Vorgehen menschenrechtlichen Schutz in Anspruch nehmen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilte am 11. Oktober 2011 die Schweiz, weil die Auflösung der illegalen Besetzung zweier Liegenschaften durch den Verein Rhino in Genf «unverhältnismässig» gewesen sei. Der Begriff «unverhältnismässig» taucht immer mehr auch im politischen Diskurs auf, wenn es darum geht, Initiativen oder Verstösse einer Gegenpartei zu attackieren oder zu disqualifizieren.
  3. Die grundlegende Schwäche des Begriffs «Menschenrechte» ist in dessen Ursprung zu finden, im Naturrecht. Wie Hans Kelsen, einer der bedeutendsten Rechtswissenschafter des 20. Jahrhunderts feststellte, kann aus dem «Sein» (Natur) kein «Sollen» (Recht) abgeleitet werden. Recht und Moral sind zwei voneinander unabhängige Wertesysteme. In der Schweiz wird das Recht (Verfassung) durch den Souverän (Volk und Stände) bestimmt, während die Moral durch die jeweiligen gesellschaftlichen, religiösen und ideologischen Vorstellungen geprägt wird.

Fazit: Der Begriff «Menschenrechte» wird in verschiedenen Erdteilen und Wertesystemen verschieden definiert und verstanden. Für die Schweiz gelten die Grundrechte, die in der Bundesverfassung enthalten sind.

Aufschlussreiche Tatsache in diesem Zusammenhang ist, dass die EU die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ausdrücklich ablehnt.

«Bürger können die EU-Institutionen nicht vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg verklagen. Dabei soll es gemäss einem Gutachten des EU-Gerichtshofes vorerst auch bleiben. Ein Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sei nicht mit EU-Recht vereinbar, argumentieren die EU-Richter in Luxemburg» (Tages-Anzeiger, 18.12.2014).

Mit anderen Worten: Schweizer und EU-Bürger können beim EGMR gegen die Schweiz klagen, nicht aber gegen die EU!

Auch die USA lehnen die Zuständigkeit von internationalen Gerichten ab, so z.B. des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag: «Die US-Regierung hat im Jahr 2000 das Statut des IStGH unterzeichnet, aber noch im selben Jahr die völkerrechtlich unübliche jedoch zulässige Rücknahme der Unterzeichnung erklärt. … Eine Zusammenarbeit mit dem Gericht wird US-Behörden verboten. »

 

Die hier erläuterten Stichworte entstammen einem Glossar zu jenem Rahmenvertrag, mit welchem der Bundesrat die «institutionelle Einbindung» der Schweiz in die Strukturen der EU herbeiführen will, der voraussichtlich 2017 zur Abstimmung gelangen wird. Das Glossar wird erarbeitet vom «Komitee gegen den schleichenden EU-Beitritt». Die einzelnen Abschnitte beruhen auf Textentwürfen von Pedro Reiser. Das Glossar dürfte voraussichtlich im Juni 2016 veröffentlicht werden.

 

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