Zur Aussagekraft hochgelobter Wirtschaftsstudien

In den zurückliegenden Wochen sind mehrere, teils vom Bund in Auftrag gegebene Studien erschienen, die der Schweiz eine düstere Zukunft voraussagen, sollte sie sich Brüssels Wünschen in Sachen Personenfreizügigkeit und «institutioneller Einbindung» nicht fügen.

EU-NO Newsletter vom 28. April 2016

Die Studien erheben den Anspruch, auf zwanzig Jahre hinaus auf Stellen nach dem Komma genau vorrechnen zu können, welche Bruttoinlandprodukt-Einbussen die Schweiz 2035 ereilen werden, wenn die Bilateralen Verträge mit der EU wegfallen sollten.

Wer diese Studien konsumiert, staunt ob mancher Begründung, staunt insbesondere ob der Auslassung wichtiger Fakten, welche nach Meinung ihrer Autoren den Wirtschaftsgang offenbar kaum beeinflussen. Wir nehmen Stellung zu fünf solch angeblicher «Nichteinfluss-Faktoren»:

Kündigungsgelüste

Die Studien gehen aus vom Fall der bilateralen Verträge etwa im Jahr 2018, wenn sich die Schweiz bis dahin in Sachen Personenfreizügigkeit und «institutioneller Einbindung» Brüssel gegenüber nicht willfährig gezeigt habe.

Schon diese ausgedachte Ausgangslage ist fragwürdig. Nicht zuletzt deshalb, weil dem Wegfall der Bilateralen, wenn die EU diese annullieren möchte, 28 EU-Mitgliedstaaten zustimmen müssten. Staaten, von denen in diesen Tagen und Wochen zur Abwehr in Südeuropa anbrandender Migrantenströme mindestens zehn EU-Mitglieder Anordnungen getroffen haben, welche die Personenfreizügigkeit markant beeinträchtigen. Sind diese zehn Staaten – ihr jüngster Partner heisst Österreich – aufgrund ihres eigenmächtigen Handelns etwa aus der EU hinausgeworfen worden? Oder glauben die Autoren, die Schweiz müsse, auf dass sie ihren Schwarzmalereien entgegenkomme, aus reinem Masochismus aus Verträgen fliehen, in denen das Verlangen nach Neuaushandlung Teil gültiger Vertragsbestimmungen ist?

Grundlage aller Wirtschaftsbeziehungen

Warum verschweigen die Autoren der erwähnten Studien starrsinnig, dass es das Freihandelsabkommen von 1972 ist, das die Grundlage für die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union abgibt. Und dass die Kündigung seit Inkrafttreten dieses Abkommens weder in der EU noch in der Schweiz je ernsthaft in Erwägung gezogen oder gar gefordert worden ist?

Zahlungsfähige Kundin

Dass die Bilateralen Verträge auch der EU grosse Vorteile sichern, dass einzelne Verträge – allen voran der Transitvertrag – für verschiedene EU-Länder, vor allem für jene mit den europaweit operierenden Speditions-Grossfirmen unverzichtbar sind, klammern die Autoren der Niedergangs-Studien schlicht und einfach aus.

Huldigen die Verfasser dieser Studien etwa der Illusion, allein Brüssels Funktionäre würden über Sein oder Nichtsein der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz entscheiden? Übersehen sie, dass die Schweizer Wirtschaft, dass Schweizer Firmen zu den zweifellos interessantesten Kunden wichtiger Unternehmen im EU-Raum zählen? Seit Jahren bezieht die Schweizer Wirtschaft deutlich mehr Dienstleistungen und Waren aus der EU als Schweizer Firmen in den EU-Raum exportieren. Schweizer Firmen sind also – bei insgesamt stotternder Weltwirtschaft – wichtige, weil auch zahlungsfähige, damit also geschätzte Kunden für EU-Firmen. Geschäfte werden selbst in Europa zwischen Lieferanten und Kunden, nicht auf Befehl von in ideologischen Dogmen gefangenen Funktionären abgewickelt. Handelnde sind Unternehmer, Produzenten einerseits, Leistungsbezüger und Einkäufer andererseits. Wie kommen Bundesberns Verwaltungsbürokraten und ihre Jünger in den Wirtschaftsverbänden darauf, dass produzierende oder Dienstleistungen erbringende Firmen, die den Erfolg suchen, die Löhne zu bezahlen und Investitionen zu tätigen und zu amortisieren haben, nichts anderes anstreben als die Verärgerung und Vertreibung wertvoller, zahlungsfähiger Kunden – auf dass diese zu Konkurrenten in anderen Ländern abwandern?

Wer allenfalls erwartetes «Stämpfelen» von Brüsseler Bürokraten zu eigenständigen Entscheiden der Schweiz und schweizerischer Firmen zum Ausgangspunkt von «Wirtschaftsprognosen» für die nächsten zwanzig Jahre bestimmt, steht mit den wirklichen, von Bedarf und Produktion in funktionierenden Märkten bestimmten Wirtschaftsabläufen offensichtlich auf Kriegsfuss.

EU in Dauerblüte?

Noch unwahrscheinlicher ist die Annahme in diesen die Schweiz vor drastischen Folgen bei Nicht-Unterwerfung unter herrische Befehle aus Brüssels Bürokratie warnenden Studien, dass die EU ein Wirtschaftsverbund ist in kontinuierlicher, während den kommenden zwanzig Jahren nie abbrechender, sich vielmehr von Jahr zu Jahr fortsetzender Blüte.

Wer sich anmasst, Zukunftsprognosen auf zwanzig Jahre hinaus als glaubwürdig zu präsentieren, sollte sich vielleicht doch auch vor Augen halten, was an völlig unerwarteten, von buchstäblich niemandem prognostizierten Wechselfällen den Gang der Weltwirtschaft, auch der europäischen Wirtschaft in den vergangenen zwanzig Jahren massiv beeinflusst hat: Der Wirtschafts-Kollaps fernöstlicher Tiger-Staaten um die Jahrtausendwende, Nine-Eleven und seine Folgen, der Ausbruch der Subprime-Krise in den USA, das Übergreifen dieser Krise auf Europa mit den daraus resultierenden Erschütterungen auf den Finanzplätzen, die daraus überbordende Verschuldung mehrerer EU-Staaten mit anschliessender, von oben angeordneter Zerrüttung der Einheitswährung Euro. Das alles soll ohne Einfluss bleiben auf die Wirtschaftsentwicklung Europas?

Glauben die Prognostiker tatsächlich, der Zusammenbruch von Schengen/Dublin, die Europa überrollende Masseninvasion wenig leistungsbereiter, die Sozial-Apparate in allen Staaten maximal ausnehmender Einwanderer aus Nahost und Schwarzafrika würde die Wirtschaftsentwicklung in Europa nicht im geringsten beeinflussen?

Überschuldungskrise

Glauben die vom Bund berufenen Prognostiker im Ernst, die nach wie vor völlig ungelöste Schuldenkrise beeinflusse die wirtschaftliche Entwicklung der EU in keinerlei Weise? Entziehen sie sich der Frage, was die grenzenlose Flutung von Europas Finanzmärkten durch Mario Draghis aus der Druckerpresse ausgespieenen Milliarden bewirkt? Übersehen sie, dass die europäische Wirtschaft all diese Gratismilliarden nicht einmal antastet, geschweige denn für Investitionen nutzt?

Glauben die Prognostiker im Ernst, die Abkehr der von Negativzinsen gepiesackten Sparer von der Äufnung gesunden Investitionskapitals aus solider Sparanstrengung als Fussnote der gegenwärtigen Wirtschaftsentwicklung abhaken zu können?

Dass die Schuldenmacher zur Rettung bankrotter Staaten bereits seit Jahren ihre Zinsnullungs-Politik vorantreiben und mit dieser Politik Pensionskassen, Lebens- und andere Versicherungsgesellschaften, die auf Gedeih und Verderb von Marktzinsen abhängen, regelrecht in den Ruin treiben – glauben die Prognostiker solche Entwicklung einfach verschweigen zu können?

Handlungsfähig bleiben!

Oder müssen die Prognostiker gar nicht die Wirklichkeit abbilden, die Öffentlichkeit vielmehr im Auftrag Bundesberns mit Schwarzmalerei heimsuchen, auf dass diese vielleicht EU-devot würde?

Tatsächlich wird bereits die gegenwärtige Entwicklung, erst recht aber die Entwicklung in den nächsten Jahren von schwer einschätzbaren Unsicherheiten und Unwägbarkeiten geprägt. Wie handeln Unternehmer, wie sollte ein Staat angesichts weitgehend ungewisser Zukunftsperspektiven handeln?

In erster Linie müssen sowohl Unternehmer wie auch die Schweiz als Land eigenständig handlungsfähig bleiben. Damit Entscheidungen gefällt werden können, die eigenen Interessen dienen, die eigenen Bedürfnissen entsprechen. Sich in solcher Situation in jenen Koloss «institutionell einbinden» zu lassen, welcher – gefangen in ihm von oben verordnetem, uneuropäischem Zentralismus – Hauptverursacher der gegenwärtigen Krise ist – das ist die schlechteste Handlungsvariante, die derzeit überhaupt zur Verfügung steht.

Bundesbern will der Schweiz die «institutionelle Einbindung» in den EU-Apparat mittels eines noch fertig auszugestaltenden Rahmenvertrags verordnen. Dieser Rahmenvertrag raubt der Schweiz Handlungsfähigkeit in der Gesetzgebung, unterstellt sie fremden Richtern im EU-Gerichtshof, die selbst Sanktionen gegen Bern verhängen können. Um solcher Unterwerfungs-Politik Rückenwind zu sichern, hat der Bund die hier erwähnten Studien in Auftrag gegeben, welche uns rosige Zukunftsaussichten im Schosse der EU vorgaukeln sollen.

Angesichts der tatsächlichen Entwicklung ist die Schweiz in erster Linie auf eigenständige, auf ihre eigenen Interessen ausgerichete Handlungsfähigkeit angewiesen. Lässt sie sich ins Brüsseler Korsett «institutionell einbinden», verliert sie ihre Handlungsfähigkeit; und damit auch ihre Zukunft

Ulrich Schlüer

 

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