Steht Brüssel über dem Schweizer Souverän?

Einer Dominikanerin, die von der Schweiz insgesamt nahezu Fr. 400‘000 an Sozialhilfe bezogen hat, wurde vom Bund die Aufenthaltsbewilligung nicht verlängert, wogegen diese ans Bundesgericht appellierte – weil ihr Sohn EU-Bürger sei.

EU-NO Newsletter vom 18. Februar 2016

Das Bundesgericht bestätigte zwar die Nicht-Erneuerung der Aufenthaltsbewilligung der aus Mittelamerika Zugewanderten, fügte seinem Entscheid aber als allgemein gültig erklärte Ausführungen an, die mehr als nur erstaunen. Das Bundesgericht erläuterte seinen Umgang mit dem Volksentscheid vom 9. Februar 2014 (also zum Ja zur Initiative gegen die Masseneinwanderung) gemäss NZZ wie folgt:

«Die Richter lassen es allerdings nicht bei diesem unproblematischen Urteilsspruch bewenden. Sie äussern sich in ihren Erwägungen auch grundsätzlich dazu, wie sich der neue Verfassungsartikel über die Zuwanderung zum FZA (also zum «Abkommen über die Personenfreizügigkeit», Ergänzung Red.) verhält und begeben sich damit auf rechtspolitisch heikles Terrain. Dazu muss man wissen, dass sich die Schweiz mit dem FZA dazu verpflichtet hat, die vor 1999 (also vor Unterzeichnung des Vertrags) ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum Unionsrecht zu berücksichtigen. Das Bundesgericht übernimmt darüber hinaus allerdings auch die spätere EuGH-Rechtsprechung, sofern keine «triftigen Gründe» dagegen sprechen – dies im Interesse einer parallelen Rechtslage in der Schweiz und der EU.»

Was sind «triftige Gründe»?

Die NZZ fährt dazu weiter:

«Nun würde man annehmen, dass das Ja von Volk und Ständen zur Masseneinwanderungsinitiative und damit zu einem Kurswechsel bei der Zuwanderungspolitik für das Bundesgericht einen solchen triftigen Grund darstellen würde, das FZA fortan restriktiv auszulegen und die neue, sich weiterentwickelnde EuGH-Rechtsprechung nur noch mit Vorsicht zu übernehmen. Doch dem ist nicht so. Das Interesse an einer parallelen Rechtslage ist laut den Bundesrichtern vorrangig und kann auch durch Artikel 121a der Verfassung (also durch das Ja von Volk und Ständen zur Initiative gegen die Masseneinwanderung, Ergänzung Red.) nicht eingeschränkt werden. Zurückhaltung bei der Auslegung des FZA sei deshalb nicht angebracht. Gleichzeitig zeigt das Bundesgericht auch dem Parlament die Grenzen auf: Setze das Parlament die Zuwanderungsinitiative auf eine Weise um, die mit dem FZA nicht vereinbar sei, werde man in jedem Fall dem FZA den Vorrang geben.»

Der langen Rede kurzer Sinn: Aus Sicht des Bundesgerichts kann das Volk entscheiden und kann das Parlament debattieren, was immer diese wollen – die Bundesrichter vertreten dennoch das EU-Recht als absolute, nicht anfechtbare Vorgabe auch für die Rechtsprechung in Lausanne.

Von einem Volksentscheid, der solche Priorität für das Bundesgericht gesetzlich festgelegt hätte, ist in der Schweiz niemandem etwas bekannt.

us

Quelle: NZZ, 30. Januar 2016

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