Die EU stellt den Bundesrat ins Abseits

Kürzlich hat der Präsident des Europäischen Gerichtshofs, also des obersten EU-Gerichts, einem Redaktor der NZZ ein Interview gewährt über die Verbindlichkeit der Rechtsprechung des EuGH.

EU-NO Newsletter vom 18. Februar 2016

Der Bundesrat strebt bekanntlich einen «Rahmenvertrag» mit der EU an, womit dem EU-Begehren nach «institutioneller Einbindung» der Schweiz in die EU-Strukturen entsprochen werden soll. Gemäss Verhandlungsmandat des Bundesrats soll diese «institutionelle Einbindung» auf drei Pfeilern stehen: Erstens auf der automatischen Übernahme aller EU-Beschlüsse und -Gesetze, die in bilaterale Verträgen angesprochene Sachverhalte betreffen. Zweitens in der Anerkennung des EU-Gerichtshofs (EuGH) durch die Schweiz als höchste, unanfechtbare Entscheidungsinstanz bei Meinungsverschiedenheiten. Drittens im Zugeständnis der Schweiz, dass die EU gegen unser Land Sanktionen (also Strafmassnahmen) ergreifen dürfe, wenn die Schweiz einmal einen Brüsseler Entscheid – z.B. dann, wenn in der Schweiz per Volksentscheid etwas anderes beschlossen würde – nicht nach Brüssels Vorstellungen umsetzen würde.

Im NZZ-Interview stand die insbesondere von Bundesrat Didier Burkhalter verbreitete Behauptung im Mittelpunkt, wonach Stellungnahmen des EU-Gerichtshofs zum Verhältnis zwischen der Schweiz und der Europäischen Union grundsätzlich den Charakter von Gutachten hätten, deren Umsetzung – oder eben Nicht-Umsetzung – Sache der politischen Behörden sei.

Diesen Standpunkt stellt der Präsident des EU-Gerichtshofs, Koen Lenaerts, kategorisch in Abrede.

Zunächst hält Lenaerts fest, dass es eine zentrale Aufgabe des höchsten EU-Gerichts sei, den Vorrang von EU-Recht über alles nationale Recht in Europa verbindlich durchzusetzen. In diesem Sinn sei der EU-Gerichtshof nicht bloss eine Instanz der Rechtsprechung, vielmehr habe er die Funktion eines «Motors der EU-Integration».

Zur Darstellung von Schweizer Bundesäten, wonach Entscheide des EuGH lediglich Gutachten seien, beschrieb die NZZ die Haltung Koen Lenaerts wie folgt:

«Mit klaren Worten äussert sich Lenaerts schliesslich zum institutionellen Abkommen, über das die Schweiz und die EU verhandeln. Geplant wären bei Streitigkeiten über die Auslegung der bilateralen Verträge zum Binnenmarkt Entscheide des EuGH, wobei sich der Bundesrat auf den Standpunkt stellt, dass es sich bloss um Gutachten handeln würde, auf deren Grundlage ein Ausschuss aus Vertretern der Schweiz und der EU eine Lösung suchen würde.

Lenaerts betont, er verfolge die Verhandlungen nicht und erteile keine Ratschläge. Er bekräftigt aber, dass gemäss den EU-Verträgen Entscheidungen des EuGH stets verbindlich sind: Selbst wenn wir ein Gutachten erstellen, dürfen EU-Vertreter nichts beschliessen, das dem Gutachten widerspricht».

Ist der Zeitpunkt nicht gekommen, da der Bundesrat endlich formell zugeben müsste, mit seiner «Gutachten-Theorie» die Schweizer Öffentlichkeit über die Auswirkungen des «Rahmenvertrags» zur «institutionellen Einbindung» der Schweiz in die EU-Strukturen wissentlich oder unwissentlich getäuscht zu haben?

us

 

Quelle: NZZ, 9. Februar 2015

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