Vertragstreue und Vertragsbruch

Verträge sind dann nützlich, wenn die damit erreichten Vorteile konsequent wahrgenommen werden. Sie nützen aber kaum, wenn ein Vertragspartner die mit dem Vertrag eingehandelten Vorteile selbstverschuldet nicht nutzt.

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Verträge sind immer ein Geben und Nehmen. Gute Verträge zeichnen sich dadurch aus, dass beide Vertragsparteien aufgrund der beiderseitig eingegangenen Konzessionen und Abmachungen mehr Nutzen als belastende Einschränkungen erzielen.

Die Bilateralen

Die bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU werden von den Befürwortern engerer Anbindung der Schweiz an die Europäische Union eigentlich nur selten inhaltlich kommentiert. Sie dienen ihnen viel eher als propagandistisch aufgeblähtes Dogma: Ohne diese Verträge, behaupten die Brüssel-Orientierten pauschal, drohe der Schweiz nichts weniger als der Abstieg ins Armenhaus.

Diese krasse, sachlich kaum begründbare Schwarz-Weiss-Malerei der EU-Befürworter mutet um so seltsamer an, wenn die Schweiz angebliche Vorteile aus diesen Verträgen ausdrücklich nicht wahrnimmt, wenn EU-Staaten solche Verträge offensichtlich und nachweisbar brechen.

Diesen eigentlich alarmierenden Tatbestand hat anfangs 2017 der in St. Gallen lehrende Professor Simon J. Evenett in einer Studie nachgewiesen. Er hat darin zahlreiche Vorfälle detailliert ausgeleuchtet, bei denen Schweizer Firmen unter offensichtlicher Verletzung bilateraler Vereinbarungen mit der EU von EU-Konzernen und insbesondere durch Regierungen von EU-Ländern regelrecht schachmatt gesetzt worden sind.

Vertragsbruch durch EU-Mitgliedstaaten

Die in der EU gültigen Freihandelsregelungen, die mit den bilateralen Verträgen auch für die Schweiz verbindlich geworden sind, verbieten nationalen Regierungen ausdrücklich, landeseigene Konzerne gegenüber Konkurrenten aus anderen EU-Ländern sowie aus der Schweiz zu bevorteilen. Der günstigste Anbieter, woher er auch stammt, muss berücksichtigt werden.

Wir Schweizer wissen das. Die Sanierung grosser Abschnitte unseres Nationalstrassennetzes erfolgt teils durch ausländische Firmen, die schweizerische Konkurrenten unterboten haben. Öffentliche Grossbauten um den Zürcher Hauptbahnhof wurden von EU-Ausländern erstellt. Unter strikter Beachtung geltender EU-Regeln lässt die Schweiz das Leer-Ausgehen schweizerischer Konzerne in solchem Zusammenhang ausdrücklich zu. Wir stellen fest, wie die SBB neue (bisher nicht einsatztaugliche) Intercity-Kompositionen aus dem Ausland bezieht, nicht bei Stadler in Bussnang. Weitere Beispiele können zuhauf angeführt werden.

Professor Evenett listet nun Fälle auf, wo Schweizer Firmen, die sich im EU-Ausland um Aufträge bewarben, von den dortigen Regierungen offensichtlich und teilweise krass benachteiligt worden sind. Per eindeutigem Vertragsbruch sind Schweizer Firmen um nachweisbar dreissig Milliarden Franken geschädigt worden.

Der Bundesrat wiegelt ab

Bundesbern reagiert nicht. Allein die Aargauer SVP-Nationalrätin Sylvia Flückiger hat den Bundesrat mit parlamentarischem Vorstoss zur detaillierten Auskunftserteilung und zum Handeln aufgefordert. Der Bundesrat wiegelt bloss ab, beschönigt und verwedelt skandalösen Vertragsbruch von EU-Staaten und von Brüssel. Und erstaunlich: Die notorischen EU-Bewunderer und Beschwörer «der Bilateralen» übergehen die Vertragsbrüche zu Lasten der Schweiz ostentativ. Einerseits behaupten sie, die Schweiz wäre ohne bilaterale Verträge verloren. Die Verteidigung der Bilateralen angesichts offensichtlicher Vertragsbrüche durch EU-Staaten unterlassen sie aber gänzlich.

Was bringen die Bilateralen?

Dieser Tatbestand veranlasst, Inhalt, Nutzen und Wert der bilateralen Verträge einmal mehr in Erinnerung zu rufen.

Erstens: Zwischen der Schweiz und der EU existieren rund zweihundert bilaterale Verträge und bilaterale Vereinbarungen. In zwei Paketen wurden davon sechzehn Verträge der Volksabstimmung unterstellt. Alle anderen, als weniger wichtig bezeichneten Vereinbarungen wurden teils vom Parlament, in den meisten Fällen aber vom Bundesrat allein beschlossen.

Die sieben Verträge des Pakets I der Bilateralen (Personenfreizügigkeit, Luftverkehr, Landverkehr, Landwirtschaft, öffentliches Beschaffungswesen, technische Handelshemmnisse, Forschung) sind mittels sog. «Guillotine-Klausel» miteinander verbunden: Fällt einer dieser Verträge, fallen die anderen sechs nach einer bestimmten Frist automatisch dahin. Die «Guillotine-Klausel» besteht allein für diese sieben Verträge, keineswegs für «die Bilateralen» insgesamt.

Vertragsrevision statt Vertragsbruch

Zweitens: Die meisten bilateralen Verträge enthalten – wie internationale Verträge generell – auch Revisionsklauseln. Solche erlauben es jedem Vertragspartner, Neuverhandlungen über Anpassungen dieser Verträge zu verlangen, wenn sie nicht vorausgesehenen Entwicklungen anzupassen sind.

Wenn die Schweiz gestützt auf die Revisionsklauseln im Vertrag über die Personenfreizügigkeit (Art. 14 und Art. 18) Anpassungen zur geltenden Personenfreizügigkeitsregelung an neue Entwicklungen (Masseneinwanderung) fordert, dann nimmt sie damit ein im Vertrag selbst garantiertes Recht wahr – nichts anderes. Die Anrufung der Revisionsklausel hat nichts, aber auch gar nichts mit Vertragskündigung oder gar Vertragsbruch zu tun. Die Anrufung dieser Klausel ist nichts anderes als der legale, vertragskonforme Weg mit dem Ziel einer Anpassung von geltenden Bestimmungen.

Vertragsbruch geschieht indessen, wenn geltende Vertragsbestimmungen – auch solche, welche die Bevorteilung landeseigener Konzerne verbieten – über- oder umgangen werden, wie das in vielen Fällen von Seiten von EU-Staaten zu Lasten der Schweiz erfolgt ist.

Der Zugang zum Binnenmarkt

Drittens: Der Zugang zum EU-Binnenmarkt wurde für die Schweiz im Freihandelsabkommen von 1972 geregelt. Dieser Freihandelsvertrag untersteht nicht der Guillotine-Klausel. Er gehört nicht zum Paket I der Bilateralen. Die Anrufung der Revisionsklausel im Vertrag über die Personenfreizügigkeit tangiert die Gültigkeit der Freihandelsregelungen zwischen Bern und Brüssel in keiner Art und Weise. Die Regelungen in diesem Freihandelsvertrag sind sorgfältig abgesichert durch WTO-Vereinbarungen, unter welche beide Vertragspartner – Brüssel wie Bern – ihre Unterschriften gesetzt haben. Die WTO-Regelungen verbieten beispielsweise jede Diskriminierung von Verhandlungspartnern.

Vertragsnutzen – Vertragsschaden

Niemand bestreitet, dass unserem Land durch bilaterale Vereinbarungen auch Vorteile erwachsen sind. Wer Verträge abschliesst, will sich mit diesen Verträgen Vorteile sichern. Im Gegenzug leistet er Konzessionen, die für die Vertragspartner vorteilhaft sind.

Verträge sind aber nur dann wirklich von Nutzen, wenn die damit eingehandelten Vorteile auch konsequent wahrgenommen werden. Indem Bundesbern – stillschweigend, aber nachdrücklich unterstützt von einer EU-freundlichen Mehrheit im Parlament – willentlich oder aus Schwäche darauf verzichtet, von der Gegenseite auch die Einhaltung gültiger Verträge zu verlangen, dann erweist sich Bundesbern ganz einfach als schwächlicher, kläglicher Verhandlungspartner. Und führt – wohl ungewollt – auch noch einen eindrücklichen Beweis. Den Beweis nämlich, dass diese Verträge für die Schweizer Wirtschaft keineswegs von existentieller Bedeutung sind. Denn die Schweizer Wirtschaft brummt trotz der von EU-Staaten begangenen Vertragsbrüche, die Schweizer Firmen Schaden in der Höhe von insgesamt dreissig Milliarden Franken zufügen.

EU-No/US

Bild: pixabay.com

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