Der EU-Rahmenvertrag: Behauptungen und Fakten (9)

Das in der EU geltende Prinzip, wonach der EU-Gerichtshof das letzte Wort zur Anwendung von allem in der EU geltenden Recht spricht, ist mit dem Konzept der Direkten Demokratie, wie es in der Schweizerischen Bundesverfassung verankert ist, nicht vereinbar.

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Wo EU-Recht gilt, kann die Gesamtheit der stimmberechtigten Bürgerinnen und Bürger die Funktion als Souverän, als höchste politische Instanz im Land, nicht mehr ausüben.

Denn wo EU-Recht gilt, kann der EU-Gerichtshof jeden Entscheid der Stimmbürger korrigieren oder annullieren, aus dem ein Widerspruch zu einer EU-Bestimmung herausgelesen werden kann.

Demzufolge ist das Rahmenabkommen, welches die Schweiz der nicht mehr anfechtbaren Oberhoheit des EU-Gerichtshofs unterstellt, ein Frontalangriff auf die Direkte Demokratie.

Die Annahme des Rahmenvertrags würde nicht bloss den bilateralen Weg abwürgen. Auch die Direkte Demokratie würde mit dem Rahmenvertrag beseitigt.

«Option Schweiz»

Am 16. Oktober 2017 referierte der EU-Chefunterhändler, der Franzose Michel Barnier vor dem belgischen Parlament über den Stand der Brexit-Verhandlungen.

Dem den Auftritt Barniers verfolgenden Korrespondenten von BBC London fiel auf, dass der Referent seinen Ausführungen ein Arbeitspapier zugrunde gelegt hatte mit dem Titel «Option Schweiz». Diesem Papier mass BBC London in ihrer Berichterstattung über den Barnier-Auftritt grosse Bedeutung bei.

In diesem Papier «Option Schweiz» formuliert die EU-Kommission ihre Ziele gegenüber der Schweiz in den Verhandlungen über den Abschluss eines Rahmenvertrags.

BBC London berichtete dazu, dass es der EU darum geht, die Schweiz im geplanten Rahmenvertrag darauf zu verpflichten, den EU-Gerichtshof als höchste, von der Schweiz nicht mehr anfechtbare Gerichtsinstanz anzuerkennen für alle Fragen, die Brüssel als «binnenmarktrelevant» einstuft.

Mit Ausnahme der Basler Zeitung nahm in der Schweiz kein einziges Medienorgan Kenntnis von der BBC-Berichterstattung über dieses Papier «Option Schweiz», das belegt, dass die EU der Schweiz mit dem Rahmenvertrag substantiellen Souveränitätsverzicht zumutet.

Auch seitens Bundesrat fehlt bis heute jede Stellungnahme zum EU-Arbeitspapier «Option Schweiz».

Professor Thomas Cottier, ehem. Ordinarius für Europa- und Wirtschaftsvölkerrecht, zum EU-Gerichtshof:

«Der Vorschlag bewirkt, dass die bilateralen Verträge mit Wirkung für die Schweiz künftig letztinstanzlich von einem Gericht beurteilt werden, in dem die Schweiz und ihre Rechtstradition nicht vertreten sind. (…) Sicher ist aber, dass Urteile des EuGH praktisch nicht ohne hohe politische Kosten missachtet werden könnten. Der Einwand des fremden Richters liegt auf der Hand. Hinzu kommt, dass der EuGH in seiner Praxis regelmässig (…) zu einer für die Schweiz restriktiven Auslegung neigt.»                                                                                       

(NZZ, 12. Juli 2013)

Gemäss «Option Schweiz» will die EU Bern im Rahmenvertrag auf folgende Position verpflichten:

Was immer der EU-Gerichtshof beschliesse, gelte als Urteil – und Urteile seien für davon Betroffene verbindlich. Wenn jemand das, was vom EU-Gerichtshof als Beschluss ausgeht, anders bezeichnen wolle, so stehe ihm dies durchaus frei. Das ändere aber nichts an der Verbindlichkeit der Urteile des EU-Gerichtshofs: Diese seien endgültig und für jede Partei verbindlich und unanfechtbar. Wenn solche Urteile in irgend welchen nationalen oder internationalen Gremien diskutiert würden, so ändere sich am Gehalt und an der Verbindlichkeit ergangener Urteile nie etwas.

Gemäss der sich auf den Bericht von BBC London abstützenden Basler Zeitung habe Barnier in Belgien zur Schweiz folgende Position vertreten:

«Es sei mit der Schweiz ein Rahmenabkommen in Verhandlung, ‹das zu einer Rechtsprechung des EU-Gerichtshofes in Bezug auf EU-Recht führen würde›. Aus Sicht der EU legen also EU-Richter aus, was zwischen der Schweiz und der EU gilt. Das entspricht dem Mandat, das die EU vor vier Jahren für die Verhandlungen verabschiedet hat. Es ist aber etwas anderes als das, was der scheidende Bundesrat Didier Burkhalter und sein Direktor für Europäische Angelegenheiten, Botschafter Henri Gétaz, zum Rahmenabkommen sagen.

Diese behaupten jeweils, dass das EU-Gericht gar nicht endgültig entscheide. Nach einem Urteil könne sich die Schweiz immer noch anders entscheiden und dies beim Gemischten Ausschuss der EU und der Schweiz vorbringen. Allenfalls könne die EU dann Massnahmen gegen die Schweiz beschliessen, die allerdings von einem Schiedsgericht mit Schweizer Beteiligung beurteilt würden.»

Von Schiedsgericht, von nachheriger Debatte, von Empfehlungen des gemischten Ausschusses steht im EU-Papier «Option Schweiz» gleich wie im «Non Paper» vom 13. Mai 2013 und im Verhandlungsmandat der EU-Kommission kein Wort. Entsprechende Ausführungen aus dem Departement für Auswärtige Angelegenheiten (EDA) in Bern entpuppen sich als einseitige, von alt Bundesrat Burkhalter erfundene, vom Bundesrat nie dementierte Beschönigungen zur Beschwichtigung möglichen politischen Widerstands gegen den Rahmenvertrag.

Die EU als Überwachungsorgan

Der von Michel Barnier in Belgien vorgetragene EU-Standpunkt unter dem Titel «Option Schweiz» hat ganz andere Folgen. Dazu wiederum die Basler Zeitung wörtlich:

«Das würde bedeuten, dass die Schweiz in Zukunft EU-Recht übernehmen müsste, das sie bisher im Rahmen von sektoriellen Abkommen nicht übernommen hat. Beispielsweise die Unionsbürgerrichtlinie.»

Die EU will sich mit dem Rahmenvertrag eine Überwachungsfunktion gegenüber der Schweiz sichern. Damit wird bestätigt: Das angestrebte Rahmenabkommen zwischen Bern und Brüssel ist weder ein Konsolidierungs- noch ein Marktzugangsabkommen, mit welchen Bezeichnungen es neuerdings von Bundesbern versehen wird. Das Rahmenabkommen bringt auch keine Erneuerung des bilateralen Wegs. Es zerstört diesen bilateralen Weg. Denn die Schweiz wäre mit diesem Vertrag nicht länger bilaterale, auf gleicher Augenhöhe mit Brüssel über gemeinsam interessierende Fragen verhandelnde Partnerin. Sie würde zur Befehlsempfängerin degradiert; Brüssel hätte das alleinige Sagen.

Das Rahmenabkommen ist in Wahrheit ein Unterwerfungsvertrag. Es unterstellt die Schweiz Brüssels gerichtlicher Oberhoheit. Mit dem Rahmenvertrag wird die Schweiz zu nichts anderem als zur Zwangsheirat mit der EU verurteilt.

Landesrecht und Völkerrecht

Eine von der Politik mehrheitlich befolgte juristische Lehre in der Schweiz behauptet, es entspreche internationaler Norm, wonach Völkerrecht jedem nationalen Recht generell vorgehe.

Allerdings hat mit Ausnahme der Schweiz kein Staat dieser Welt einen solchen Grundsatz je beschlossen oder auch nur hinreichend konsequent befolgt. In der Schweiz fehlt dem Beschluss demokratische Legitimität. Er wurde von oben verfügt.

Die Lehre der Schweiz stützt sich auf zwei Bundesgerichts-Urteile, wovon eines allerdings einem Mehrheitsentscheid einer einzigen Kammer entsprungen ist, zu dem das Plenum des Bundesgerichts bis heute nie Stellung genommen hat.

Professor Dieter Freiburghaus, Experte für Europarecht:

«Akzeptiert die Schweiz den Europäischen Gerichtshof als Instanz, würden fremde Richter über die Schweiz befinden. Es läuft alles auf einen Verlust der Souveränität hinaus».

(20 Minuten, 27. Juni 2013)

Gemäss geltender Bundesverfassung hat allein das sog. «zwingende Völkerrecht» (Folterverbot, Sklavereiverbot, Aggressionsverbot usw.) gegenüber der Bundesverfassung Vorrang.

Während von Seiten des Bundesgerichts-Plemuns keine eindeutige und verbindliche Beschlussfassung vorliegt, hat am 15. Dezember 2015 das Deutsche Bundesverfassungsgericht ein Leiturteil zum Verhältnis «Landesrecht und Völkerrecht» gefällt.

In diesem Urteil wird zunächst in aller Deutlichkeit festgehalten, dass im demokratischen Rechtsstaat jedes Gericht dem Demokratieprinzip unterworfen ist.

Zum Demokratieprinzip gehört, dass im demokratischen Rechtsstaat der Souverän des Landes immer das von jedem Gericht zu respektierende Recht besitze, bestehende Rechtstatbestände aufgrund neuer Erfahrungen und Entwicklungen auf dem von der Verfassung vorgegebenen Weg zu verändern bzw. anzupassen. Dies könne dem Souverän auch durch völkerrechtliche Bestimmungen niemals verwehrt werden.

In jedem demokratischen Rechtsstaat enthält die Staatsverfassung Bestimmungen, wie geltendes Recht aufgrund neuer, sich im Souverän festigender Überzeugungen angepasst werden kann.

Entsteht aus einem Anpassungsentscheid des Souveräns ein Widerspruch zu geltendem Völkerrecht, so werde die Regierung durch den Entscheid des Souveräns verpflichtet, auf internationaler Ebene für eine Änderung bzw. Korrektur des in Widerspruch zum im Land getroffenen Entscheid sich befindenden Völkerrechtsgrundsatzes aktiv zu werden. Bliebe entsprechender Einsatz ohne Erfolg, müsse eine Kündigung jenes Vertrags oder jener Konvention, welche sich in Widerspruch zum Landesrecht befände, eingeleitet werden.

Mittels angeblichem Völkerrecht einen vom Souverän des Landes auf dem von der Verfassung vorgegebenen Weg zustande gekommenen Entscheid annullieren oder verbieten zu wollen, widerspreche ebenso dem Demokratieprinzip wie die Nicht-Umsetzung eines vom Souverän getroffenen, einer völkerrechtlichen Vereinbarung widersprechenden Entscheids.

Roger Köppel, Nationalrat, Chefredaktor «Weltwoche»:

«Wer auf ausländischen Autobahnen fahren wolle, erklärte er (gemeint ist Bundesrat Ignazio Cassis), müsse sich ja auch an die dortigen Verkehrs­regeln halten. Der Satz stimmt, aber der Vergleich ist falsch. Rahmenvertrag heisst nicht Respekt vor den Regeln der anderen. Rahmenvertrag heisst: Die Regeln der anderen gelten überall, auch in der Schweiz.»

(Weltwoche, 15. Januar 2018)

Die Behauptung, wonach unter Rechtsstaaten ein weltweit geltender Konsens darüber bestehe, dass Völkerrecht nationalem Recht generell vorgehe, entbehrt sowohl jeder politischen als auch jeder rechtlichen Grundlage.

In der Schweiz entsteht geltendes Recht aus der demokratischen Auseinandersetzung im Parlament bzw. aus Entscheiden des Souveräns. Derart in der Demokratie entstandenes Recht ist demokratisch legitimiert.

Völkerrecht ist dagegen von Diplomaten geschaffenes Vertragsrecht, dem demokratische Legitimität solange abgeht, als es vom Souverän des Landes auf dem von der Verfassung vorgeschriebenen Weg nicht ausdrücklich genehmigt und als gültig erklärt worden ist.

EU-No

Bild: Pixabay.com

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