Nach der Debatte über die Masseneinwanderung

Ein Interview, das am 30. November in der Basler Zeitung erschienen ist. Ständerat Thomas Minder wurde interviewt von BaZ-Redaktor Beni Gafner.

EU-NO Newsletter vom 8. Dezember 2016

BaZ: Der Ständerat entscheidet heute über die Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative …

Thomas Minder: (unterbricht) …das Wort «Umsetzung» kann man bei diesem Thema gleich aus dem Vokabular streichen, denn umgesetzt wird hier und heute rein gar nichts.

Welcher Vorschlag ist aus Ihrer Sicht bedenklicher – jener von Ständerat Pirmin Bischof (CVP) oder jener von Philipp Müller (FDP)? Bei beiden sollen Arbeitgeber aus Berufsgruppen mit hoher Arbeitslosigkeit inländische Stellenbewerber zum Bewerbungsgespräch einladen und Ablehnungen begründen müssen.

Müllers Konzept ist noch schlimmer als jenes von Pirmin Bischof. Es ist eigentlich falsch, immer vom «Konzept Müller» zu sprechen, denn dahinter verbirgt sich ein Schulterschluss zwischen FDP und SP. Man müsste drum vom «Konzept Müller/Rechsteiner» sprechen. Ständerat Philipp Müller und sein Ständeratskollege Paul Rechsteiner, der Gewerkschafter, haben sich gesucht und gefunden. Das Bürokratiemonster, das dabei herauskam, ist noch erschreckender als beim Vorschlag Bischof. Pirmin Bischof will in einer ersten Phase keine Anhörungs- und Begründungspflicht für Unternehmen und, wenn alle Stricke reissen, will er immerhin noch eine Klausel, mit der die Bundesversammlung Massnahmen ergreifen könnte. Schlimm sind aber beide Vorschläge.

Weshalb denn?

Beide verletzen die Bundesverfassung in krassester Weise. Wir feiern den Geburtstag der direkten Demokratie… Es hat aber in der Geschichte unseres modernen Bundesstaats noch nie eine Initiative gegeben, bei der man so weit vom beschlossenen Verfassungstext entfernt war. Deshalb sage ich, dass man das Wort «Umsetzung» hier gleich aus dem Vokabular streichen soll.

Entspricht die Nichtumsetzung der Zuwanderungs-Initiative einem Novum oder einem neuen Trend unter Bundespolitikern?

Diese Weigerungshaltung des Parlaments ist für mich der absolute Tiefpunkt meiner fünfjährigen politischen Tätigkeit in Bern. Alle in diesem Haus schwören auf die Verfassung oder sie legen das Gelübde ab – und dieselbe Verfassung lassen dieselben Politiker hier zum Wunschzettel verkommen. Das geht doch so nicht. Ich würde das auch sagen, wenn ich nicht für die Masseneinwanderungs-Initiative gekämpft hätte. Ich habe schon den Eindruck, dass Volksinitiativen in diesem Haus immer mehr auf die leichte Schulter genommen werden. Das war bei der Zweitwohnungs-Initiative so und bei unserer Abzocker-Initiative ist noch gar nichts umgesetzt.

Was empfehlen Sie als Ständerat, der mit der Abzocker-Initiative im Jahr 2013 knapp 68 Prozent Ja-Stimmen erreichte?

Ich werde von Vertretern aus Initiativkomitees öfters um Rat gefragt, wie Initiativen am besten formuliert werden sollen. Aufgrund meiner negativen Erfahrungen in Bern, was die Umsetzungsbereitschaft betrifft, empfehle ich immer dasselbe: Man muss gleich detailliert formulierte Gesetzestexte in einen Initiativtext schreiben. Und so den Interpretationsspielraum für das Parlament möglichst klein halten.

Bei der vorliegenden Zuwanderungs-Initiative sind aber Kontingente und Höchstzahlen klar festgeschrieben – und doch hält das weder die Mehrheit im Nationalrat noch jene im Ständerat davon ab, genau diese Vorgaben zu streichen?

Man hätte wohl auch die Masseneinwanderungs-Initiative noch klarer und noch zwingender ausformulieren müssen, damit genau dies nicht geschehen kann, was jetzt passiert. Aber es ist schon so – es ist eine ganz erbärmliche Entwicklung, wenn das Parlament trotz klaren Vorgaben durch eine Volks- und eine Ständemehrheit einfach macht, was es will.

Welchen Eindruck nehmen Sie aus den Kommissionsverhandlungen mit, die länger dauerten als sonst?

Ich hatte in fast jeder Minute der Diskussion das Gefühl, die Personenfreizügigkeit mit der EU sei heiliggesprochen. Sie sei das absolute Nonplusultra für unser Land, sie sei die Sauerstoffflasche, mit der die Schweiz am Leben bleibt. Ich sehe es überhaupt nicht so, dass die Schweiz ohne Personenfreizügigkeit nicht mehr funktionieren würde. Unser Land ist derart attraktiv, dass es weltweit immer gute Fachkräfte findet. Man muss doch kein Prophet sein, um sehen zu können, was passieren wird, wenn Kosovo, Mazedonien, Serbien oder die Türkei einmal zur EU gehören. Dann kann nicht wie bisher an der Personenfreizügigkeit festgehalten werden. Diese Freizügigkeit, wie sie sich heute präsentiert, hat keinerlei Nachhaltigkeit. Jedes Land muss die Zuwanderung eigenständig steuern können, beispielsweise um einer hohen Arbeitslosigkeit im eigenen Land entgegenwirken zu können. Dass ein Land selber bestimmt, wer kommen darf und wer nicht, ist doch beileibe legitim.

Sie wirken ziemlich aufgebracht. Ist das wegen der Niederlage so, die sie heute einstecken werden im Rat?

Nein, das ist mir egal. Ich habe in der Kommission 25 Anträge eingebracht, alle blieben chancenlos. Was mich aber schon ärgert, ist die fehlende Weitsicht der sogenannten Chambre de réflexion. Man könnte mit einer guten, pflichtgetreuen Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative gleich mehrere schwelende Brandherde im Inland auf einmal löschen. Man könnte mit einem geschickt formulierten Inländervorrang, der eigentlich ein Arbeitslosenvorrang ist, etwa die Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen. Und die Arbeitslosenquote, die man bei heute 3,2 Prozent offenbar einfach so hinnimmt, wieder auf deutlich unter ein Prozent drücken. So, wie es früher war. Auch andere innenpolitische Baustellen könnten wieder sauber zugeschaufelt werden. Das Parlament vergibt hier eine Riesenchance.

Hat die vorberatende Kommission eigentlich abklären lassen, wie stark sich die Zuwanderung mit den Konzepten Müller/Rechsteiner oder Bischof drosseln lässt?

Nein, das hat die Staatspolitische Kommission nicht getan. Das war gar nie ein Thema, weil zum Vornherein klar war, dass der Effekt null ist. Es gibt weder weniger Zuwanderung noch weniger Arbeitslose – es ist einfach ein Bürokratiemonster. Fertig. So findet man im Modell Müller auch nirgends eine Formulierung, dass die Zuwanderung eigenständig gesteuert oder gedrosselt werden soll. Dasselbe gilt auch für die Modelle Nationalrat und Pirmin Bischof.

Würden Sie gleich kritisch auftreten, hätte Ihr Stand Schaffhausen Nein gesagt zur Masseneinwanderungs-Initiative?

Gottlob bin ich nicht in der Lage, dass ich mich in dieser Frage verbiegen oder splitten müsste, denn mein Stand hat Ja gesagt. Ich bin mir aber sicher, dass ich die beschlossene Verfassungsbestimmung höher gewichten würde als das Resultat in meinem Stand.

Sie üben Kritik an jenen Standesvertretern, die aus Kantonen kommen, die Ja sagten zur Zuwanderungs-Initiative?

Ständeräte sind Standesvertreter. Das ist so. Entsprechend müssten eigentlich die Vertreter jener Kantone, die Ja sagten, relativ locker hier in den Saal kommen und die Bundesverfassung vertreten, also das Konzept von SVP-Ständerat Peter Föhn. Aber das wird natürlich nicht geschehen. Föhn wird nicht mehr als fünf Stimmen erhalten.

Wie auch immer – eines Tages wird wohl ein Umsetzungsgesetz mit einer Stellenmeldepflicht auf dem Tisch liegen. Würden Sie in diesem Fall ein Referendum unterstützen?

Ein Referendum ist nicht dafür ins Leben gerufen worden, eine Verfassungsumsetzung zu ändern, die aus dem Ruder gelaufen ist. Man geht eigentlich davon aus, dass Initiativen umgesetzt werden. Referenden sind für die Bekämpfung von Gesetzgebungen da, die in diesem Haus beschlossen wurden. Ich würde das Geld im Sack lassen, denn mit einer Annahme des Referendums wären wir wieder bei der Nulllösung von heute. Man wird wohl Geduld haben müssen, bis sich auch hier im Bundeshaus die Erkenntnis durchsetzt, dass die Personenfreizügigkeit kein Heiligtum ist, dass sie Nachteile bringt und dass nicht an ihr festgehalten werden kann, wenn Staaten wie Mazedonien, Serbien und die Türkei EU-Mitglieder werden.

(Das Komitee EU-No bedankt sich bei Ständerat Thomas Minder und bei BAZ-Redaktor Beni Gafner für das Copyright für das hier abgedruckte Interview.)

 

 

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