Ein bemerkenswerter NZZ-Artikel

Am 6. Oktober 2015 erschien in der Neuen Zürcher Zeitung ein Gastkommentar von Alt-Botschafter Carlo Jagmetti. Dieser war während seiner Tätigkeit als Botschafter nebst anderen Positionen auch Chef der schweizerischen Mission bei der EG. Carlo Jagmetti nimmt in seinem Kommentar die bundesrätliche Absicht kritisch unter die Lupe, mit der EU ein «Rahmenabkommen» abzuschliessen. Darin würden Regelungen festgelegt, die für alle bereits bestehenden, aber auch für alle erst in Zukunft entstehenden bilateralen Vereinbarungen und Verträge übergeordnete Gültigkeit hätten.

EU-NO Newsletter vom 29. Oktober 2015

Wir vermitteln den Lesern des EU-No-Bulletins diesen hervorragenden Kommentar von Alt-Botschafter Jagmetti in seinem vollen Wortlaut. Wir bedanken uns beim Autor und bei der NZZ-Inlandredaktion für die Erteilung des Copyrights für diesen Nachdruck.

Der Gastkommentar von Carlo Jagmetti hat folgenden Wortlaut:

Die Schweiz kennt eine lange Tradition der internationalen Zusammenarbeit, nahm aber am 1951 mit der Schaffung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl beginnenden Einigungsprozess nicht teil. Heute steht sie der Europäischen Union (EU) gegenüber, einer überstaatlichen Rechtsgemeinschaft, für die der Lissabonner Vertrag von 2009 massgebend ist. Dessen Ziele sind: Währungs- und Wirtschaftsunion, Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik (GASP), polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit. Dank Efta und Freihandelsabkommen (FHA) entstand in Westeuropa eine grosse Freihandelszone. 1984 postulierten die Minister der Efta-Länder und der EG-Mitgliedstaaten einen europäischen Wirtschaftsraum. Daraufhin wurde der EWR ausgehandelt. Am 20. Mai 1992 reichte der Bundesrat der EG plötzlich ein Beitrittsgesuch ein. Der EWR-Beitritt wurde in der Volksabstimmung vom 6. Dezember 1992 abgelehnt. Auf bilateralem Wege wurde die Zusammenarbeit neu geregelt.

Die Volksabstimmung vom 9. Februar 2014 betreffend die Masseneinwanderung hat aber eine neue Situation geschaffen. Ideen, wie der Abschluss eines neuen «umfassenden Freihandelsabkommens» oder eben eines «Rahmenabkommens» oder eines nachträglichen EWR-Beitritts, stehen im Raum. Der Gedanke, über die bestehenden Verträge ein Dach zu bauen, ist nicht neu. Er geht bereits auf die im FHA enthaltene Entwicklungsklausel zurück. Der EWR hätte eine entsprechende Lösung geboten. Offenbar fordert die EU nun ein Rahmenabkommen. Der Ansatz zu einem solchen «Obervertrag» hat an sich etwas Bestechendes. Die Verwaltung und die Fortführung der bilateralen Verträge könnten dank dem übergeordneten Vertrag vereinfacht werden.

Angesichts der unterschiedlichen Grössenordnungen ist es klar, dass vom Riesen EU eine Lösung angestrebt wird, wonach das Verhältnis zur Schweiz im Wesentlichen durch eine EU-eigene Institution überwacht und die Rechtspre­chung dem EU-Gerichtshof übertragen würde. Das Resultat wäre eine Rechtsvereinheitlichung und eine richterliche «Entmündigung». Ein «opting out», d.h., dass eine Vertragspartei bei unlösbaren Differenzen aus dem betreffenden Vertrag «aussteigen» kann, wobei die andere Partei sich meist das Recht vorbehält, das ganze System aufzugeben, hilft in der Praxis wohl nicht. Für eine Schutzklausel gilt Ähnliches. Letztlich würde der grosse Partner über das entstandene Problem entscheiden. Ein Rahmenabkommen würde wohl zunächst einmal alle in den Bilateralen I und II behandelten Materien abdecken und beträfe damit zunächst vor allem das EU-Standbein der Wirtschaftsunion. Hinsichtlich der dritten Säule, der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit, sind die Dinge schon weit gediehen. Allerdings könnte das Schengen-System noch Schwierigkeiten bereiten, wie auch die Behandlung der im Mittelmeergebiet entstandenen Flüchtlingsströme.

Das zweite Standbein, die GASP, könnte Sprengstoff liefern. So ist unter vielem anderem im Lissabonner Abkommen statuiert: «Die Zuständigkeit der Union in der Gemeinsamen Aussen-und Sicherheitspolitik erstreckt sich auf alle Bereiche der Aussenpolitik sowie auf sämtliche Fragen im Zusammenhang mit der Sicherheit der Union, einschliesslich der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen kann.» Und weiter: «Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates schulden die andern Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung…» Die EU ist also eine militärische Beistandsgemeinschaft. Dieser wenig bekannte Aspekt wird in der Schweiz geflissentlich verschwiegen.

Ein Rahmenabkommen würde eine enge Verflechtung mit der EU mit sich bringen. Das zu erwartende Diktat der EU würde in seinem vollen Umfang spät erkannt, und schliesslich würde das Rahmenabkommen doch als unpraktikabel und als der Schweiz unwürdig empfunden. Eine allfällige Kündigung des Rahmenabkommens hätte unabsehbare politische und wirtschaftliche Folgen. Um solche ruinöse Auswirkungen zu vermeiden, bliebe dann letztlich nur noch der Beitritt zur EU. Der Entscheid über den Abschluss eines Rahmenabkommens ist deshalb von fundamentaler Bedeutung. Wer sich für ein umfassendes Rahmenabkommen und damit für die Perspektive eines späteren Beitritts entscheidet, verzichtet für die Zukunft auf Neutralität, Souveränität sowie Unabhängigkeit und trägt dazu bei, die direkte Demokratie, den Föderalismus und die Gemeindeautonomie zu untergraben Eine Schweiz in der EU wäre eine wesentlich andere Schweiz als die heutige. Das von der EU erwartete (institutionelle) Rahmenabkommen muss unter diesem Ge­sichtspunkt bewertet werden.

Carlo Jagmetti war als Diplomat u. a. Chef der schweizerischen Mission bei der EG und Botschafter in Korea, Frankreich und in den USA.

 

Quelle: «NZZ», 06.10.2015

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert