Die Sicht der Schweizer Öffentlichkeit

Kürzlich ist die 19. Ausgabe der von der ETH Zürich herausgegebenen Jahreserhebung «Sicherheit – Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitische Meinungsbildung im Trend» erschienen.

>> EU-NO Newsletter vom 15. Juni 2017 im PDF-Dokument herunterladen (hier klicken)

Diese, die Bevölkerung alljährlich mit den gleichen Fragen zur Sicherheit und zur Sicherheitspolitik der Schweiz konfrontierende Studie erfreut sich ihrer langfristig überprüfbaren Aussagen wegen hoher Wertschätzung in der Schweiz.

Das Bulletin EU-No zitiert nachstehend unkommentiert die Erkenntnisse dieser Studie zum Stellenwert der Neutralität in der Schweizer Öffentlichkeit. Im nächsten, in einer Woche erscheinendem Bulletin präsentieren wir die Erkenntnisse dieser Studie zur Haltung der Schweizerinnen und Schweizer gegenüber der EU, der Uno, der Nato sowie überhaupt zur Zusammenarbeit mit wichtigen internationalen Organisationen.

Bezüglich des Stellenwerts der Neutralität hält diese Studie zunächst fest:

Neutralität: Dreh- und Angelpunkt

«Aufgrund der Wichtigkeit für die Schweizer Aussen- und Sicherheitspolitik stellt die Neutralität in der Studie «Sicherheit» jeweils einen thematischen Schwerpunkt dar. Die Einstellung gegenüber der Neutralität ist Dreh- und Angelpunkt für die Bereitschaft einer Person, eine sicherheitspolitische Kooperation der Schweiz mit ausländischen Partnern gut zu heissen oder abzulehnen. Je nach Auslegung der Neutralität ändert sich die Vorstellung darüber, was das ideale Mass an politischer Öffnung für die Schweiz darstellt. So kommt ein Beitritt zur EU oder zur Nato beispielsweise eher für Personen in Frage, welche der Neutralität einen geringeren Wert beimessen.» (S.119)

Hohe Zustimmung

«Das Prinzip der Neutralität geniesst auch 2017, wie schon in den Jahren zuvor, eine äusserst hohe Zustimmung in der Bevölkerung: Für 95% (±0%) der SchweizerInnen ist klar, dass die Schweiz an der Neutralität festhalten soll. Die beiden Antwortkategorien ‘sehr einverstanden’ und ‘eher einverstanden’ werden jeweils zu 69%, respektive 26% genannt. Die hohe Zustimmung zur Neutralität zeichnet sich über alle Altersgruppen, sämtliche Bildungsniveaus, alle drei Sprachregionen sowie über das gesamte politische Spektrum und unabhängig des Geschlechts ab.» (S.120)

Differentielle Neutralität

«Seit der Beteiligung an den Wirtschaftssanktionen der Uno gegen den Irak im Jahr 1990 praktiziert die Schweiz eine differenzielle Ausgestaltung der Neutralität. Mit der Aussage ‘Die Schweiz sollte bei politischen Konflikten klar Stellung beziehen, bei militärischen Konflikten aber neutral bleiben’ wird die Zustimmung zu dieser differenziellen Neutralität erhoben. 2017 ist das dritte Jahr in Folge, in dem die Befürwortung einer differenziellen Neutralität signifikant gesunken ist. Nach wie vor erachten 54% (–3%) der SchweizerInnen eine differenzielle Auslegung der Neutralität als sinnvoll. Allerdings hat nach 2014 ein bemerkenswerter Meinungsumschwung stattgefunden. Nur 1994 fiel die Befürwortung einer expliziten aussenpolitischen Positionierung der Schweiz tiefer aus (53%). Die aktuell knapp mehrheitliche Zustimmung zur differenziellen Neutralität stammt von Personen aus allen politischen Lagern, von Personen aller Altersgruppen, beider Geschlechter und aus jedem Bildungsniveau, wobei Personen mit tiefer Bildung eine Zustimmung von 48% aufweisen. Die Ansichten zur differenziellen Auslegung der Neutralität unterscheiden sich einzig hinsichtlich der Sprachregion signifikant, wobei die WestschweizerInnen diese Form der Neutralität als einzige nicht unterstützen (D-CH: 58%, F-CH: 40%, I-CH: 63%;).

Die de-facto-Aufgabe der Neutralität impliziert die Forderung, auch bei militärischen Konflikten im Ausland klar Stellung zu beziehen. Knapp ein Fünftel (19%, –2%) der in der Schweiz stimmberechtigten Personen spricht sich für eine solch dezidierte Positionierung der Schweiz im internationalen Umfeld aus. Dieser im langjährigen Vergleich sehr tiefe Wert hat sich in den letzten Jahren äusserst stabil gezeigt. Die Ablehnung ist entlang aller soziodemografischen Merkmale ähnlich stark ausgeprägt. Einzig bei Personen aus der Westschweiz ist die Zurückhaltung gegenüber einer expliziten Positionierung der Schweiz in militärischen Konflikten im Ausland ausgeprägter als in der übrigen Schweiz (Zustimmungswerte: D-CH: 21%, F-CH: 11%, I-CH: 22%).» (S.122)

Schutz vor Konflikten

«Gut zwei Drittel (67%, +2%) der Schweizer StimmbürgerInnen sind der Auffassung, dass die Neutralität die Schweiz vor internationalen Konflikten bewahrt. Ähnlich wie im Vorjahr sehen 59% (+2%) der Befragten eine sicherheitspolitische Schutzfunktion der Schweizer Neutralität für ganz Europa.

Ausschlaggebend darüber, ob jemand der Sicherheitsfunktion der Neutralität zustimmt, ist in erster Linie die allgemeine Bereitschaft, die Neutralität der Schweiz beizubehalten. … Nahezu alle Befragten (jeweils 98%), die den zwei Aussagen zur sicherheitspolitischen Funktion zustimmen, sind auch der Meinung, dass die Schweiz die Neutralität beibehalten solle. Darüber hinaus fällt auf, dass nur eine Minderheit der Personen, die sich politisch links einstufen, der Meinung ist, die Neutralität trage zur Sicherheit und Stabilität in Europa bei (links: 43%, Mitte: 63%, rechts: 69%).»

Bewaffnete Neutralität

Ein weiterer integraler Bestandteil des schweizerischen Neutralitätskonzepts ist die Auffassung, wonach die Schweiz im Ernstfall fähig sein muss, ihre Neutralität auch militärisch autonom verteidigen zu können. Markant mehr SchweizerInnen sind im Jahr 2017 der Ansicht, dass die Schweiz diese Aufgabe nicht vollständig erfüllen kann (51%, +6%). Seit mehreren Jahren waren die Zweifel an der militärischen Durchsetzbarkeit der Neutralität nicht so stark ausgeprägt. Dennoch wird die sicherheitspolitische Alternative zur Neutralität in Form eines europäischen Verteidigungsbündnisses nach wie vor nur von einer Minderheit bevorzugt (23%, +3%).

Auffällig bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit einer militärischen Verteidigung der Neutralität ist der Unterschied zwischen Personen, die sich politisch links orientieren zu denjenigen im rechten politischen Spektrum. Personen aus der politischen Linken sind dabei deutlich häufiger der Meinung, dass die Neutralität der Schweiz militärisch nicht mehr glaubhaft durchgesetzt werden kann (links: 58%, Mitte: 50%, rechts: 47%).

Teilnahme an Verteidigungsbündnis

«Die Zustimmung einer Person zu einem europäischen Verteidigungsbündnis steht in engem Zusammenhang mit ihrer Befürwortung eines Beitritts der Schweiz in die EU. Wer für einen EU-Beitritt der Schweiz ist, stimmt deutlich häufiger einem europäischen Verteidigungsbündnis zu. Die Bereitschaft für ein Sicherheitsbündnis mit der EU und die Befürwortung der Neutralität der Schweiz hängen ebenfalls zusammen. Mit einer tiefen Zustimmung zur Neutralität geht eine höhere Bereitschaft für ein Sicherheitsbündnis mit der EU einher und umgekehrt. Ausserdem zeigt sich, dass SchweizerInnen, die von der Glaubwürdigkeit einer militärischen Verteidigung der Schweizer Neutralität überzeugt sind, einer Beteiligung der Schweiz an einem europäischen Sicherheitsbündnis deutlich seltener zustimmen» (S. 125/126)

Instrument der Aussenpolitk

«Neben der Einstellung der Schweizer Stimmbevölkerung zur Neutralität im Allgemeinen sowie zu deren spezifischen Ausgestaltungsformen wird in dieser Studienreihe erhoben, inwieweit die Neutralität als Instrument der Aussenpolitik angesichts der heutigen internationalen Verflechtung noch umgesetzt werden kann, und ob ihr die Bevölkerung einen finalen Charakter, d.h. einen Wert an sich, zuschreibt.

Es stellt sich die Frage, in welchem Umfang die zunehmende Verflechtung der Aussen- und Wirtschaftspolitik in der heutigen Zeit zu einem Hindernis für die Umsetzung der Neutralität werden könnte. … Die Antwort der Schweizer Stimmberechtigten auf diese Frage fällt 2017 deutlich anders aus als in den vergangenen Jahren. 37% der Befragten stimmen der Aussage zu, dass die wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen der Schweiz mit anderen Staaten die Neutralität verunmögliche. Dies ist eine Zunahme um neun Prozentpunkte gegenüber dem Vorjahr. Noch nie seit Messbeginn wurde die faktische Realisierbarkeit der Schweizer Neutralität so stark in Frage gestellt. Dagegen bleibt die Ansicht, dass die Schweiz aufgrund der Neutralität nicht mehr mit den europäischen Nachbarn kooperieren kann, mit 35% unverändert (±0%). Es sind vor allem Personen, die nicht an der Neutralität der Schweiz festhalten möchten, welche die Vernetzung der Schweiz mit anderen Staaten am häufigsten als Hindernis für die Neutralität betrachten (72%).» (S.129)

Fazit

«Die Schweizer StimmbürgerInnen stehen auch im Jahr 2017 geschlossen hinter dem Neutralitätsprinzip. Sie sehen es als geeignetes Instrument für die Schweiz, um international glaubwürdig als Vermittlerin und Friedensförderin in Konflikten auftreten zu können. Auch betrachten SchweizerInnen die Neutralität als festen Bestandteil der Schweizer Identität. Als solches hat die Neutralität laut einer grossen Mehrheit einen nicht verhandelbaren Stellenwert. Gut zwei Drittel der StimmbürgerInnen sehen in der Neutralität einen wirksamen Schutz, damit die Schweiz nicht in internationale Konflikte gerät. Die grosse Bedeutung, welche die SchweizerInnen der Neutralität nach wie vor beimessen, zeigt sich auch in der markanten Abnahme des Anteils an Personen, die eine differenzielle Auslegung der Neutralität unterstützen.

Trotz dem starken Willen, an der Neutralität festzuhalten, scheint es für viele SchweizerInnen aktuell ungewiss zu sein, wie die Neutralität im Ernstfall glaubhaft militärisch verteidigt werden kann. Obwohl nach wie vor die meisten Befragten davon ausgehen, dass die wirtschaftliche und politische Vernetzung der Schweiz mit der Neutralität vereinbar sei, waren noch nie so viele SchweizerInnen wie in diesem Jahr davon überzeugt, dass die Globalisierung der Schweizer Wirtschaft und Politik die Neutralität faktisch verunmögliche.

Trotz den wachsenden Bedenken soll die Schweiz laut den StimmbürgerInnen an der Neutralität festhalten. Das Schliessen von Bündnissen mit europäischen Partnern oder gar die militärische Unterstützung von anderen Staaten durch die Schweiz werden mehrheitlich abgelehnt. Die Neutralität gilt als die beste sicherheitspolitische Option für die Schweiz, auch in unsicheren Zeiten.» (S. 135/136)

EU-No/us

Zitiert aus «Sicherheit 2017 – Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitische Meinungsbildung im Trend». Autoren: Tibor Szvircsev Tresch, Andreas Wenger, Stefano De Rosa, Thomas Ferst, Eva Moehlecke de Baseggio, Olivia Schneider, Jennifer Victoria Scurrell.

Herausgegeben vom Center for Security Studies, ETH Zürich, und von der Militärakademie an der ETH Zürich.

www.css.ethz.ch/www.milak.ch

Die Zwischentitel setzte die Redaktion EU-No ein.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert