Zugang der Schweiz zum EU-Markt

Seit der Lancierung der Masseneinwanderungsinitiative (MEI) durch die SVP im Juli 2011 behaupten deren Gegner stereotyp: Die MEI wird zur Kündigung der Bilateralen führen. Und wenn die Bilateralen fallen, verliert unsere Wirtschaft den Zugang zum EU-Markt von 500 Millionen Konsumenten.

EU-NO Newsletter vom 03.11.2016

Diese Behauptung ist ganz offensichtlich unwahr. Aber diese Unwahrheit wurde in den letzten fünf Jahren gebetsmühlenartig von allen Parteien (mit Ausnahme der SVP), von einigen «Experten» und von fast allen Medien verbreitet.

Die Tatsachen

In klarem Gegensatz zu dieser dutzendfach wiederholten Unwahrheit ist Tatsache:

  • Der zollfreie Zugang der Schweizer Industrie- und Handelsgesellschaften zum EU-Markt wird nicht durch die Bilateralen I, sondern durch das Freihandelsabkommen Schweiz – EU von 1972 sichergestellt.

Economiesuisse bestätigte dies anlässlich des 40-Jahr-Jubiläums dieses Freihandelsabkommens wie folgt:

«Die Wirkung des Freihandelsabkommens ist auch nach 40 Jahren allgegenwärtig: Jeden Tag passieren Waren im Wert von 1 Milliarde Franken die Grenze zwischen der Schweiz und der EU. Diese Waren finden Eingang in die verschiedensten Bereiche der Unternehmen und der EU-Bürgerinnen und -Bürger sowie der Schweizerinnen und Schweizer, von ihren Haushalten bis zu ihren Arbeitsplätzen.» (Economiesuisse, 20.07.2012)

  • Die Schweiz ist ebenso wie die EU insgesamt sowie sämtliche EU-Staaten einzeln ein Mitglied der Welthandelsorganisation WTO. Diese verbietet willkürliche diskriminierende Massnahmen.

Yves Rossier sagte als Staatssekretär im Departement für auswärtige Angelegenheiten:

«Die EU hat kein Interesse, die Bilateralen zu kündigen. Und sie wird sie auch nicht kündigen.» (Aussage an der Winterkonferenz 2015 des Schweizerischen Gewerbeverbands, zitiert nach «Weltwoche» Nr. 6, 5. Februar 2015)

Was sind die Bilateralen ?

In der politischen Diskussion wird immer von «den Bilateralen» gesprochen. Die Schweiz hat insgesamt weit über hundert bilaterale Verträge und Vereinbarungen mit der EU abgeschlossen.

  • Falls das Personenfreizügigkeitsabkommen (FZA) gekündigt wird, würden im schlimmsten Fall nur sieben der weit über hundert bilateralen Abkommen mit der EU wegfallen, die sogenannten Bilateralen I.

Richtigerweise müsste immer von «Bilateralen I» (und nicht von «Bilateralen») gesprochen werden, wenn man die mit dem FZA verknüpften Verträge (Guillotine-Klausel) anspricht.

Was sind die Bilateralen I ?

Mit «Bilateralen I» werden sieben Verträge bezeichnet, die folgende Themen betreffen: Die Personenfreizügigkeit, den Landverkehr, den Flugverkehr, das öffentliche Beschaffungswesen, die Zertifizierung von Produkten, die Landwirtschaft und die Forschung.

Guillotine-Klausel: Bei einer formellen Kündigung des Abkommens über die Personenfreizügigkeit würden alle anderen Abkommen der Bilateralen I innerhalb von sechs Monaten hinfällig.

Wie wichtig sind die Bilateralen I ?

  • Die Kündigung des Personenfreizügigkeitsabkommens würde der Schweiz erlauben, die Einwanderung aus dem Ausland wieder eigenständig zu steuern.
  • Das Landverkehrsabkommen mit kurzer Nord-Süd-Achse (Gotthard), viel zu billigem Transitpreis und Zulassung der Vierzigtönner wurde seinerzeit ganz klar zum Vorteil der EU ausgehandelt. Die EU wird dieses für die EU-Länder und für EU-Konzerne äusserst vorteilhafte Abkommen nie und nimmer kündigen.
  • Bei Kündigung des Flugverkehrsabkommens (das auch den Zwang zur Übernahme künftiger, heute noch nicht bekannter, allein von der EU formulierter Regelungen beinhaltet) ist sicher kein Zusammenbruch des Flugverkehrs zu befürchten, da sehr viele Fluggesellschaften die Schweiz gern anfliegen und die früheren, mit den interessierten Staaten einzeln abgeschlossenen Abkommen immer noch gelten.
  • Das öffentliche Beschaffungswesen liegt im Interesse der EU, denn Schweizer Firmen sind bei EU-Ausschreibungen aufgrund der hohen Lohnkosten schlicht nicht konkurrenzfähig.
  • Die Zertifizierung von Schweizer Produkten (sog. technische Handelshemmnisse) könnte, nach einer allfälligen Abkommens-Kündigung, in der EU statt in der Schweiz vorgenommen werden, mit Gültigkeit sowohl für die EU wie für die Schweiz.
  • Ein Wegfall des Landwirtschaftsabkommens mit der EU hätte keine spürbaren Auswirkungen auf die Schweiz.
  • Am EU-Forschungsprogramm «Horizon 2020» können sich auch Staaten ohne Freizügigkeitsabkommen mit der EU beteiligen (z.B. Island, Albanien, Mazedonien, Montenegro, Serbien, Türkei, Israel, etc.). Das gälte gegebenenfalls auch für die Schweiz.

Fazit

  • Keines dieser sieben Abkommen der Bilateralen I sichert der Schweiz den Zugang zum EU-Markt!
  • Der Zugang der Schweiz zum EU-Markt wird durch das Freihandelsabkommen von 1972, das nicht zu den Bilateralen I gehört und nicht von der Guillotine-Klausel betroffen ist, sichergestellt!

Beispiele von Falschaussagen

«Die SVP-Masseneinwanderungsinitiative ist ein direkter Angriff auf den Wohlstand der Schweiz», sagte Christophe Darbellay noch als CVP-Präsident in einem Video-Interview. Er ist nicht allein mit diesem Falschargument. Am 9. Februar 2014 entschieden Volk und Stände über die Initiative «Gegen die Masseneinwanderung» der SVP. Für CVP-Präsident Christophe Darbellay (Aussage im unmittelbaren Vorfeld besagter Abstimmung) handelte es sich um die «wichtigste Abstimmung der Legislatur», wie er vor den Medien in Bern sagte. Es stehe der Zugang zum EU-Markt mit 500 Millionen Menschen auf dem Spiel. Deshalb hätten sich FDP, CVP, BDP, GLP, Grüne und EVP zusammengeschlossen, um gemeinsam Front dagegen zu machen. Abseits stehe die SP, die auch gegen die SVP-Initiative sei, aber eine eigene Kampagne führen wolle. Auch die Wirtschaft und die Gewerkschaften hätten sich gegen die Volksinitiative ausgesprochen. (Tages-Anzeiger, 17.12.2013)

Im Tages-Anzeiger vom 12. November 2013 war zu lesen: «Europa-Experten warnen indes vor einem Ende der Bilateralen. So bezeichnete der Politologe Dieter Freiburghaus in einem Weltwoche-Interview im Mai eine Rückkehr zum Freihandel als Katastrophe für die Schweiz

Heinz Karrer, Economiesuisse-Präsident: «Die Initiative (MEI) ist mit dem Personenfreizügigkeitsabkommen unvereinbar, das gibt auch die SVP zu. Der Spielraum für Neuverhandlungen ist minimal. Denn die EU wird uns den vollen Zugang zum europäischen Binnenmarkt nicht länger gewähren, wenn wir eine grundlegende Spielregel in diesem Markt nicht mehr einhalten wollen. Deshalb ist das Risiko gross, dass wir die Bilateralen I, die diesen Zugang regeln, verlieren werden». (20 Minuten, 29.01.2014)

Tim Guldimann, damals Botschafter, heute SP-Nationalrat: «Wir spüren noch kaum die Auswirkungen der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative. Die bilateralen Verträge garantieren uns ja immer noch den Zutritt zum EU-Markt. Wenn wir die Bestimmungen des neuen Verfassungsartikels buchstabengetreu umsetzen, ist dieser Zutritt gefährdet, weil wir damit die Personenfreizügigkeit aufheben und das diesbezügliche bilaterale Abkommen brechen. Die EU könnte vertragskonform mit der Guillotine-Klausel andere wichtige bilaterale Verträge kündigen». (Journal 21, 10.10.2015)

Ständerat Philipp Müller (FDP): «55 Prozent unserer Exporte gehen in die EU, darum wollen wir einen gesicherten Zugang zum Binnenmarkt. In diesem gelten aber gewisse Regeln, an die sich alle beteiligten Staaten zu halten haben, also auch die Schweiz. Wollen wir das nicht, können wir die Bilateralen kündigen und auf diesen Markt mit 500 Millionen Menschen verzichten». (Interview in der NZZ am Sonntag, 03.07.2016)

Bewusste Falschaussagen

Die politischen Gegner der MEI und fast alle Medien verheimlichen die Tatsache, dass der zollfreie Zugang zum EU-Markt durch das Freihandelsabkommen von 1972 und nicht durch die Bilateralen I sichergestellt ist.

Fast nirgends kann man beispielsweise Folgendes lesen oder hören:

«Gestern fand in Bern unter dem Vorsitz der Schweiz die 60. Sitzung des Gemischten Ausschusses des Freihandelsabkommens zwischen der Schweiz und der EU von 1972 statt. Der Ausschuss stellte fest, dass das Abkommen insgesamt gut funktioniert und auch dieses Jahr ein wichtiges Instrument zur Erleichterung des Handels zwischen der Schweiz und der EU bildete.

Das Freihandelsabkommen Schweiz – EU von 1972 liberalisiert den Handel mit Industrieprodukten und regelt den Handel mit landwirtschaftlichen Verarbeitungsprodukten. Der Gemischte Ausschuss verwaltet das Abkommen und überwacht dessen Umsetzung.» (Seco-Meldung, 11.12.2014 – von nahezu keinem Medium übernommen.)

Ein Jahr später sagte das Seco:

«Heute fand in Brüssel turnusgemäss unter dem Vorsitz der Europäischen Union (EU) das 61. Treffen des Gemischten Ausschusses des Freihandelsabkommens zwischen der Schweiz und der EU von 1972 statt. Der Ausschuss beschloss die Übernahme des Paneuropa-Mittelmeer-Ursprungsprotokolls. Er stellte fest, dass das Abkommen insgesamt gut funktioniert und auch dieses Jahr ein wichtiges Instrument zur Erleichterung des Handels zwischen der Schweiz und der EU darstellte. … Das nächste Treffen des Gemischten Ausschusses wird im Herbst 2016 in Bern stattfinden.» (Seco-Meldung, 3. Dezember 2015)

Die Tatsache, dass dieser Gemischte Ausschuss während eines vollen Jahres, zwischen dem 11. Dezember 2014 und dem 3. Dezember 2015 nie zusammentreten musste, bringt zum Ausdruck, dass während dieses ganzen Jahres keine einzige Meinungsverschiedenheit, keine einzige Streitfrage zum Freihandelsabkommen zwischen Bern und Brüssel zu bereinigen war.

  • Die Medien verheimlichen, dass wir ein gut funktionierendes Freihandelsabkommen mit der EU haben, das nicht zu den Bilateralen I gehört und deshalb nicht der Guillotine-Klausel unterworfen ist.
  • Es wird überdies verheimlicht, dass wir einen Gemischten Ausschuss mit der EU haben, der paritätisch, also gleichberechtigt zusammengesetzt ist.
  • Und drittens wird verheimlicht, dass der Gemischte Ausschuss Schweiz – EU seit 43 Jahren einwandfrei funktioniert, alle bisher aufgetretenen Meinungsverschiedenheiten bereinigen konnte und derzeit mangels strittiger Fragen eigentlich nur zur Verfasssung des Jahres-Kurzberichts einmal jährlich einberufen werden muss.

Rahmenabkommen

Obwohl ein gut funktionierender Gemischter Ausschuss den Handel zwischen der Schweiz und der EU während den letzten 43 Jahren kompetent beaufsichtigt und die reibungslose Anwendung des Abkommens alljährlich bekräftigt, will die EU neuerdings mittels eines Rahmenabkommens die bilateralen Verträge der Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs unterstellen.

Das Rahmenabkommen würde die Schweiz auch dazu verpflichten, neues EU-Recht automatisch („dynamisch“) zu übernehmen. Damit könnte auch das bis heute einwandfrei funktionierende Freihandelsabkommen durch die EU einseitig abgeändert werden.

Fazit

Seit fünf Jahren werden die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger systematisch angelogen.

Der zollfreie Zugang zum EU-Markt wird durch das Freihandelsabkommen Schweiz – EU und nicht durch die Bilateralen I sichergestellt.

Die wortgetreue Umsetzung von Artikel 121a der Bundesverfassung (also die von Volk und Ständen angenommenen Bestimmungen gegen die Masseneinwanderung) gefährdet den zollfreien Zugang der Wirtschaft zum EU-Markt ganz offensichtlich nicht. Der Gemischte Ausschuss musste deswegen noch nie einberufen werden – weil keine Meinungsverschiedenheiten entstanden sind.

Wir brauchen kein Rahmenabkommen, das uns entmündigt und an die EU anbindet.

 

Symbolbild von Bredehorn.J / pixelio.de

 

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