Interview der «Basler Zeitung» mit Christoph Blocher

Christoph Blocher bezeichnet Schengen als Konstrukt der Verantwortungslosigkeit.

(Das Interview führte Beni Gafner, Bundeshaus-Korrespondent der Basler Zeitung)

EU-NO-Newsletter vom 1. Oktober 2015

Basler Zeitung: Wie gefährlich ist die Flüchtlings- und Migrationskrise?

Christoph Blocher: Wir haben es nicht mit einer Flüchtlingskrise zu tun, auch nicht mit einer Migrationskrise; aber wir haben es mit einer gravierenden Führungskrise in Europa zu tun. Jetzt zeigen sich die Folgen einer verantwortungslosen Führungs­losigkeit in der EU, aber auch in der Schweiz.

Woran messen Sie die Führungslosigkeit?

Dass Menschen in Länder ziehen wollen, wenn sie erwarten, es gehe ihnen dort besser, ist nichts Neues. Da kein Land alle aufnehmen kann, führte dies in allen Ländern zu einer entsprechenden Ausländerregelung und Asylpolitik. Man nimmt diejenigen Menschen auf, die an Leib und Leben verfolgt sind. Das sind heute in der Schweiz ein paar wenige Prozente. Sie werden als Flüchtlinge aufgenommen, auch ihre Familien.

Dann gibts die Kriegsflüchtlinge, spezielle Fälle, die ihr Land wegen Krieg verlassen müssen. Ihnen gewährt man vorübergehend Schutz. Es sind Schutzbefohlene. Sie müssen nach dem Krieg wieder nach Hause, so wie beispielsweise die vielen polnischen Kriegsflüchtlinge, die im Zweiten Weltkrieg in der Schweiz vorübergehend Schutz fanden.

Und drittens galt stets: Wir haben keinen Platz für Millionen von Wirtschaftsflüchtlingen. Alle Länder des Westens haben das Recht, diese nicht aufzunehmen. Kein Land kann dies verkraften.

Der Zusammenbruch dieser Politik soll eine Folge von Führungslosigkeit sein?

Eindeutig. Es kommen nun Kriegsflüchtlinge, Wirtschaftsflüchtlinge, an Leib und Leben Bedrohte, Abenteuerlustige, Kriminelle – alles miteinander, in einer grossen Masse. Wir haben es mit einer Massenvölkerwanderung hin zu Staaten zu tun, wo das Leben besser ist. Dies kann aber kein Staat bewältigen.

Aus Verbarmen und aus moralistischen Gründen wurden die Schleusen geöffnet. Frau Merkel hat dies zuvorderst getan, indem sie sagte: «Wir müssen helfen. Wir Deutsche schaffen das.» In der Schweiz tut Bundespräsidentin Sommaruga dasselbe. Sie sagt: «Wir haben alles im Griff, es gibt gar kein Asylchaos, alles ist überhaupt kein Problem.»

Erster Grund dieser Führungslosigkeit ist, dass man das Problem nicht anerkennt. Die Führungsschwäche liegt vor allem aber im Grossen. Man hält das Gesetz nicht ein, man führt nach Belieben mit dem Gutseinwollen.

Bundespräsidentin Sommaruga, als Gesetzesbrecherin? Ein starkes Stück!

Nicht nur sie. Bundesrat und Parlament halten die Gesetze nicht ein. Es werden viele aufgenommen, die nicht an Leib und Leben verfolgt sind. Und das verspricht man der ganzen Welt. Das ist eine Einladung.

Frau Sommaruga erklärte etwas, das für die halbe Welt eine solche Einladung darstellt: «Wir schicken niemanden in eine Diktatur zurück.» Die Mehrheit der Staaten auf dieser Erde sind Diktaturen – wir müssten ja Milliarden aufnehmen, wenn dies die neue Praxis ist. Das Signal gegen aussen wird wahrgenommen. Genau gleich wie die Willkommensbilder aus Deutschland, die medial um die Welt gingen.

Nun, die Hilfsbereitschaft Deutschlands ist schon ziemlich eindrücklich.

Natürlich ist diese Hilfsbereitschaft gross – für ein paar Tage. Suchen Sie nach Hilfsbereitschaft, die länger als ein paar Tage dauert, eine Hilfsbereitschaft, in der Menschen bereit sind, mit eigenem Geld direkt und bedingungslos Verantwortung für Flüchtlinge zu übernehmen, und zwar so lange, bis sie eine Berufsbildung haben und auf eigenen Beinen stehen können. Das dauert bis 20 Jahre. Hier ist es dann wohl nicht so weit her mit der Solidarität.

Sie haben im EWR-Abstimmungskampf den Begriff der «EU als intellektuelle Fehlkonstruktion» geprägt. Gilt das auch für Schengen-Dublin?

Ja, natürlich. Es kommt jetzt aus. Man sollte endlich zugeben, dass dieses Konstrukt nicht funktionieren kann. Schengen sagt, dass es keine nationalen Grenzen und keine Personenkontrollen geben darf. Aber Landesgrenzen umschreiben ein Gebiet, innerhalb dessen die Verantwortung bestimmten Politikern zugewiesen ist. Fallen die Grenzen weg, sind alle für alles – aber niemand mehr für etwas verantwortlich. Dass dies nicht funktionieren kann, war von Anfang an klar. Auch weil die Erfahrung zeigt, dass kleinere Gebiete einfacher zu überblicken sind als sehr grosse. Schengen-Dublin ist eine Konstruktion der Verantwortungslosigkeit.

Aber das Problem liegt doch vor allem an der löchrigen Schengen-Aussengrenze.

Das Problem ist, dass nicht klar ist, wer für mein Land verantwortlich ist, wenn ich nicht mal Grenzkontrollen durchführen darf.

Zur Aussengrenze wurde damals gesagt: «Wir schliessen die Aussengrenze hermetisch ab!» Dabei war doch damals schon klar, dass dies nicht funktionieren kann, weil es doch beispielsweise in Polen schon damals einen kleinen Grenzverkehr mit der Ukraine gab, der rege benutzt wird.

Jeder, der ein bisschen weiter dachte, erkannte, das kann man gar nicht. Auch die verstärkte Kontrolle an der Aussengrenze, wie man sie dann umzusetzen versuchte, hat sich mehr oder weniger aufgelöst. Man sagte sich: Grenzen streng bewachen und jemanden zurückschicken – das macht man nicht. Schon damals kamen Verbarmen und Moralismus ins Spiel. Aber etwas kennen diese Moralisten nicht, die für die heutige Situation verantwortlich sind: Bescheidenheit. Man kann nicht sämtliche Wirtschaftsflüchtlinge aufnehmen.

Eine Erkenntnis, die sich mehr und mehr durchsetzt, auch in Deutschland. Stellen Sie das auch fest?

Ich stelle vor allem fest, dass die einzelnen Länder vorerst einmal in der Not sitzen, weil unklar ist, ob man wieder zur alten Ordnung zurückkehrt: Asyl und Zuwanderung sind Staatssache. Frankreich kontrolliert seit einem Jahr schengenwidrig seine Grenze zu Italien. Die Franzosen machen es einfach und sagen niemandem etwas.

In Deutschland äussert sich der Zynismus der Moralisten in dieser Frage ebenfalls: Man sagt: «Wir können das, wir helfen euch, wir schaffen das.» Ich hörte den alten Genscher am Radio sagen: «Deutschland ist dort angekommen, wo es hingehört.»

Seither ist eine Woche vergangen und es tönt plötzlich anders. Nun heisst es: «Wir helfen euch! Aber wir müssen diese Last gerecht verteilen.» Zuerst lädt man die Menschen ein, man verspricht ihnen Hilfe, man sagt, man sei stark genug dazu, und erntet dafür Anerkennung. Dann folgt aber die Last, die man zu tragen hätte, und verteilt sie auf andere. Deshalb erfolgt nun der Appell an die «Solidarität» – wieder ein schöner moralischer Wert –, jetzt müssen auch alle anderen diese falsche Politik mittragen. Alles aus Solidarität.

Welches wären die Folgen eines verbindlichen Verteilschlüssels?

Das System wird in diesem Fall ganz zusammenbrechen. Dann wird gar niemand mehr etwas durchsetzen. Man wird sich sagen, es ist ja egal, wie viele kommen. Wir können sie ja verteilen. Dann wird die Trickserei innerhalb Schengen-Dublins, die es von Beginn weg gab, neue Formen annehmen. Einzelne Staaten werden sagen, bei uns sind 100 000 gekommen, obwohl es nur 50 000 waren. So kann man mehr auf andere Staaten verteilen. Andere werden sagen, wir haben so und so viele, obwohl es viel weniger sind. So sieht die Organisation der Verantwortungslosigkeit aus.

Welches ist der Ausweg der Schweiz?

Die Nachteile von Schengen müssen nun unverzüglich ausgemerzt werden, indem die Grenzen wieder systematisch kontrolliert werden. Das heisst nicht, die Grenzen zu schliessen – aber kontrollieren muss man sie.

Das ist ein Signal nach aussen. Wer keine gültigen Dokumente hat, darf nicht einreisen. Fertig. Dann werden dies auch die angrenzenden Länder tun. Und dann muss auch Italien schauen, dass nicht immer mehr nach Italien einwandern.

Kann dies unser Grenzwachtkorps?

Was ich hier höre, ist unglaublich. Der Grenzwachtkommandant sagt, er brauche dazu statt 2000 Grenzwächter 6000. Ich kenne das aus eigener Erfahrung aus meiner Zeit als Bundesrat. Als Erstes heisst es bei einer neuen Aufgabe immer: «Ich brauche dafür mehr Geld und mehr Leute.» Das ist aber falsch.

Der Grenzwachtkommandant hat seinen Auftrag mit jenen Mitteln zu erfüllen, die ihm zur Verfügung stehen. Punkt. Zudem ist es nun dringend, vorbehaltene Entschlüsse zu haben, die aufzeigen, was man in ausserordentlichen Lagen zu tun hat. Die Armee muss Flüchtlinge betreuen können, auch wenn dies von ihr unvermittelt verlangt wird.

Grenzwachtkommandant Jürg Noth sagt, er habe die Lage im Griff. Glauben Sie ihm?

Ich kenne das. Wenn einer sagt, er habe die Lage im Griff, dann hat er ein Puff. Eine solche Lage hat niemand im Griff. Frau Merkel hat auch gesagt, man habe die Lage im Griff – nach vier Tagen war damit schon Schluss.

Natürlich: Herr Noth muss die Grenze nicht schliessen, systematische Kontrollen sind wichtig. Wenn es ihm befohlen wird, hat er es zu tun. Vor Schengen hat die Schweiz 70 000 illegale Einwanderer pro Jahr zurückgewiesen. Immerhin. Zu diesem System müssen wir zurückkehren.

Sie kritisieren heftig. Ist es aber nicht so, dass der Bund nun mühsam Infrastruktur aufbauen muss, die Sie als Justizminister abgebaut haben?

Diesen Vorwurf höre ich zum ersten Mal. Ich habe nirgends abgebaut. Wir haben den Kantonen damals gesagt, ihr müsst euch einrichten auf 20 000 bis 30 000 Asylsuchende pro Jahr – tatsächlich hatten wir damals etwa 10 000 jährlich.

Und: Zusätzlich erstellten wir eine Notfallorganisation, was zu tun ist, wenn in Krisen mehr kommen. Zum Beispiel 30 000, 50 000 oder gar 100 000. Diese vorsorglichen Entschlüsse wurden bis ins Detail vorbereitet. Alles musste jedes Jahr genau überprüft werden. Man muss dauernd kontrollieren – bis ins letzte Detail, bis zu jeder Unterkunft, bis zu jeder Telefonnummer.

Dann hörte ich aber, dass man dieses Notfallkonzept nicht mehr weiterverfolgt hat, nachdem man mich aus dem Amt gejagt hatte. Offenbar hat der Bund leer stehende Bauten verkauft, die für dieses Notfallkonzept reserviert waren. Das war 2010. Das muss dringend wieder gemacht werden.

Und nun?

CB: Die Armee, das Grenzwachtkorps und die Kantone müssen sich bereithalten, um diese Aufgabe notfalls übernehmen zu können. Die Armee hat schon früher Flüchtlingszentren aufgebaut, betrieben und bewacht. Offenbar gibt es die Detachemente dafür heute nicht mehr. Dann muss man es halt mit normalen Soldaten machen.

Ich habe aber gehört, dass der Bundesrat solche Vorbereitungen seitens der Armee nicht wollte und abgelehnt hat. Es brauche die Armee nicht. Es ist Zeit, dass in der Führung wieder klare Verantwortung einkehrt.

Quelle:

«Kein Land kann dies verkraften», Interview von Beni Gafner, Bundeshaus-Korrespondent, mit Christoph Blocher, erschienen in der Basler Zeitung am 16. September 2015

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