Behauptungen und Wahrheit (I)

Bundesbern behauptet regelmässig: Wer in der Wirtschaft oder in der Wirtschaftswis-senschaft Rang und Namen habe, trete weitgehend vorbehaltlos für den von der EU der Schweiz abgeforderten Rahmenvertrag zur «institutionellen Anbindung» der Schweiz an die EU ein.

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Dass diese Behauptung weit von den Tatsachen entfernt ist, zeigt eine Auswahl kürzlich publizierter Stellungnahmen von Persönlichkeiten, welche praktisch oder theoretisch Bemerkenswertes zur Wirtschaft bzw. zur Wirtschaftsentwicklung geleistet haben. Bundesberns Behauptung gerät dabei in die Nähe realitätsblinder Illusion.

Schädlicher Zentralismus

Der von Zug aus wirkende Wirtschafts- und Währungsberater Felix W. Zulauf führte zu den wahren Interessen «der Wirtschaft» in der EU-Diskussion am 29. März 2013 in «Finanz und Wirtschaft» Folgendes aus:

«Die Einheitswährung für strukturell völlig unterschiedlich aufgestellte Volkswirtschaften bewirkt wachsende wirtschaftliche Ungleichgewichte; sie müssen über Umverteilung ausgeglichen werden, was den Zentralismus fördert. Die EU-Elite und auch diejenige in diversen Hauptstädten haben das Ziel der Vereinigten Staaten von Europa vor Augen.

Gegen aussen tritt die EU sehr protektionistisch auf. Es ist verständlich, wenn ihr der kleine weisse Fleck mitten in Europa ein Dorn im Auge ist. Da heute die grosse Mehrheit der Schweizer Bevölkerung gegen den Beitritt ist, macht sich in der EU Ärger und Enttäuschung breit. Deshalb erhöht sie den Druck auf die Schweiz, sich anzupassen und zu integrieren.

Da die Schweiz zwar von der EU im Handel mehr kauft als umgekehrt, doch die EU für die Schweiz der mit Abstand wichtigste Handelspartner ist (was umgekehrt nicht zutrifft), kommt bei manchen hiesigen Exportunternehmen Angst auf wegen möglicher Diskriminierung.

Wer das schweizerische System demontiert, demontiert auch den Wohlstand

Einst schweizerische Grosskonzerne sind heute mehrheitlich in ausländischer Hand und werden meist von ausländischen Verwaltungsräten und Managern geführt. Diese haben mit den Werten der direktdemokratischen politischen Ordnung, den Werten, der Geschichte und der Kultur des Landes wenig am Hut.

Sie wollen einfach innerhalb der Haltefrist von Topmanagern (vier bis sieben Jahre) für ihre Gesellschaft so viel Geld wie möglich verdienen, um möglichst hohe Boni zu kassieren. Der Rest kümmert sie wenig. Diese Manager beeinflussen heute massgeblich die Meinungsbildung der Economiesuisse. Diese ist in Wirtschaftsfragen eine wichtige Meinungsmacherin für die Mitteparteien.

Die Schweiz will keine Abschottung, denn sie hat eine der offensten Volkswirtschaften und ist auf Aussenhandel angewiesen. Vielfach werden von Befürwortern einer Annäherung an die EU Horrorszenarien gezeichnet, dass der Marktzugang ohne ein Rahmenabkommen nicht mehr möglich sei.

Doch weder Chinesen noch Amerikaner übernehmen automatisch EU-Gesetze und können trotzdem einen grossen Handel mit der EU betreiben, dank der Welthandelsorganisation (WTO), zu deren Mitgliedern auch die Schweiz zählt.

Den Menschen in der Schweiz geht es wirtschaftlich und in puncto Freiheit besser als denjenigen in den EU-Staaten. Nicht weil die Schweizer bessere Menschen sind, sondern wegen des besseren Systems, das mehr Prosperität und Freiheit für die Bürger schafft.

Föderalismus und direkte Demokratie haben Nachteile, aber unter dem Strich überwiegen die Vorteile der Subsidiarität bei weitem. Wer also das schweizerische System demontiert, der demontiert auch den hohen Wohlstand.»

Brüssels Classe politique

Zum Zustand und zur die Entwicklung der EU dominierenden Brüsseler Classe politique sagte der ehemalige – den dortigen Wirtschaftsaufschwung nach dem Zusammenbruch des Kommunismus massgeblich und höchst erfolgreich beeinflussende – Staatspräsident Tschechiens, Vaclav Klaus, in einem Referat an der Mitgliederversammlung der Auns am 28. April 2018:

«Die Unterschiede zwischen Kommunismus und EU-Europa sind gross (und niemand kann sie leugnen), aber die Menschen in Europa sind heutzutage fast so stark reguliert, manipuliert und indoktriniert, wie wir in der späteren kommunistischen Ära gewesen sind. Die Meinungsfreiheit ist wieder eingeschränkt. Es herrscht die politische Korrektheit. Die EU-Protagonisten und Propagandisten haben die Atmosphäre geschaffen, in welcher gewisse Fragen und Antworten nicht erlaubt werden. Die wirkliche Debatte – diese unentbehrliche Substanz der Politik – existiert in der heutigen EU nicht mehr. Nur deshalb können die Menschen die Fortsetzung des heutigen Weges der europäischen Integration, der zur Postdemokratie und zur Stagnation führt, unterstützen, verteidigen oder zumindest passiv tolerieren.

Postdemokratie

In Europa erleben wir ein gefährliches demokratisches Defizit und das Entstehen der Postdemokratie. Lange Zeit beobachten wir den Anstieg von Anonymität der Entscheidungen, wachsende Entfernung der Bürger von den Entscheidungsträgern und gefährliche Entpersonifizierung der EU. Für die Demokratie brauchen wir den Staat, nicht seine Schwächung und Liquidierung. Größere Strukturen als der Staat sind für die Demokratie ungeeignet. In diesen Strukturen ist die authentische demokratische Repräsentanz der Bürger nicht möglich. Das verstehen Sie in der Schweiz sehr gut. Auch deshalb haben Sie Ihre Kantone.

Ich bin überzeugt davon, dass die heutige europäische Entwicklung keine historische Notwendigkeit ist. Was wir jetzt erleben, ist ein «man-made» (selbstgemachtes) Problem. Es geht um unsere, sich selbst zugefügte Beschädigung. Die heutige, nicht erfolgreiche europäische ökonomische Entwicklung ist ein Produkt des heutigen europäischen Wirtschafts- und Sozialsystems auf der einen Seite und der mehr und mehr zentralistischen und undemokratischen EU-Institutionen auf der anderen. Das Hauptproblem sehe ich in der Umkehrung des Gleichgewichts zwischen Staat und Markt, zwischen Politik und menschlicher Freiheit. Die extreme Version dieser Umkehrung haben wir im Kommunismus – mit bekannten Konsequenzen – erlebt.»

Fehlkonstrukt Euro

Professor Dr. Hans Werner Sinn, langjähriger Präsident des angesehenen ifo-Wirtschaftsinstituts in München, persönlich zu den renommiertesten Wirtschaftswissenschaftern in ganz Europa zählend, erläutert die währungspolitischen Ursachen der offensichtlichen wirtschaftlichen Stagnation in der EU (nach «Smart Investor», Ausgabe 11/2017):

«Mit der Ausschaltung des Wechselkursri­sikos zwischen den Euro-Teilnehmerländern und der Zinskonvergenz waren seinerzeit plötzlich kreditfinanzierte Lohnerhöhun­gen möglich, die weit über der Produkti­vität lagen. Dennoch schien der Euro in dieser Phase zu funktionieren. Mit der Lehman-Krise verloren Banken und Anleger dann aber die Lust, weitere Kredite nach Südeuropa zu vergeben. Die erneute künstliche Vergünstigung der Kredite durch die Rettungsmassnahmen löste ein keyne­sianisches Strohfeuer beim BIP der betrof­fenen Länder aus, behinderte dort aber jene Sektoren, die im internationalen Wettbe­werb standen – sie blieben zu teuer. Die falschen relativen Güterpreise sind nach Einschätzung Sinns das Kernproblem Eu­ropas. Es gehe um das richtige Preisniveau für die gebotene Produktivität und Qua­lität. Europa habe ausdrücklich kein Kon­junkturproblem. Daher bekomme man das Problem auch nicht durch noch mehr Geld in den Griff. Im Gegenteil. Die Wettbewerbsfähigkeit stelle man nur durch den Verzicht auf Geld her. So müsse das Lohn­niveau in Griechenland, Spanien und Por­tugal um ca. 30% sinken, um wieder wett­bewerbsfähig zu werden. Weil die Verlockung durch niedrige Zinsen aber viel stärker war als die rechtliche Schranke («gehärteter Stabilitätspakt»), die Angela Merkel glaubte, errichtet zu haben, stieg die Verschuldung weiter an. Bis auf lrland, Malta und Deutschland liegen alle anderen Länder heute noch weiter über der Staats­schuldengrenze von 60% des BIP als am Höhepunkt der Krise im Jahr 2012.

Trostlose Aussichten

Anschliessend skizzierte Sinn vier trostlo­se Optionen für die Eurozone:

  1. Dauer­hafte Transferunion à la Macron.
  2. De­flation in der Peripherie (Austerität), woran die Gesellschaften dort zerbrechen können.
  3. Nachinflationierung des Nor­dens, was der Politik der EZB entspreche, auch wenn dies offiziell nicht zugegeben werde. Bei dieser durchaus rationalen Stra­tegie werden die Sparer ihr Geld verlieren.
  4. (Temporäre) Austritte aus dem Euro, wodurch die Wettbewerbsfähigkeit auf­grund der Abwertung in Minuten wieder­hergestellt würde. Das entspreche dem Plan, den Varoufakis vorbereitet habe und den auch Schäuble wollte.

Eine fünfte Option, da dürfe man sich nicht täuschen, gebe es nicht.

Weitere bemerkenswerte Standpunkte finden Sie, geschätzte Leserinnen und Leser, in einer Woche im am 21. Juni 2018 erscheinenden EU-No-Bulletin.

EU-No

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